Aufruf “Gegen institutionellen Rassismus!”


Die Mitglieder des Netzwerkes Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) haben in den Jahren 2000 bis 2006 aus rassistischen Motiven Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ermordet. In der Kölner Keuppstraße verübten sie ein Nagelbomben-Attentat, in Nürnberg und Köln überlebten bei zwei weiteren NSU-Sprengstoffanschlägen zwei Migrant_innen nur knapp. In Baden-Württemberg wurde 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter vom NSU ermordet.

Schon die bisher aufgedeckten skandalösen sogenannten „Ermittlungspannen“ von Polizei und Verfassungsschutz bei der Suche nach dem ab Januar 1998 flüchtig gewesenen  mutmaßlichen NSU-Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe lassen, so der Bericht des Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags, den ungeheuren Verdacht „gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen“ zu.

AUFRUF

Gegen institutionellen Rassismus! Pädagog_innen* für eine vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes!

Als Zeichen eines entschlossenen Entgegentretens gegen den institutionellen Rassismus, der bei den Ermittlungen zur NSU-Mord- und Anschlagsserie sichtbar geworden ist, fordern wir eine offensive Auseinandersetzung mit Rassismus und rechtsextremen Tendenzen in den staatlichen Sicherheitsbehörden. Als konkrete Schritte fordern wir…

… die Einsetzung einer Untersuchungskommission nach dem Vorbild der Stephen Lawrence Kommission in Großbritannien mit dem Auftrag der Vorbereitung durchgreifender Reformen bei den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden des Landes und des Bundes, die institutionellen Rassismus und insbesondere rassistische Ermittlungspraxen wie die Praxis des Racial Profiling in Zukunft wirksam verhindern,
… das Offenlegen der zahlreichen Kontakte des mutmaßlichen NSU-Kerntrios zu in Baden-Württemberg lebenden Neonazis sowie die vollständige Aufklärung der Hintergründe des Mordes an Michèle Kiesewetter, der rassistisch motivierten Ermittlungen gegen Sinti und Roma in Heilbronn, sowie der Verbindungen von Polizeibeamten zum Ku Klux Klan im Rahmen des geplanten Untersuchungsausschusses des Landtags Baden-Württemberg,
…  auch auf Bundesebene eine weitere Aufklärung der offenen Fragen im Kontext von NSU-Ermittlungen im Rahmen eines neuen Untersuchungsausschusses des Bundestages.

In unserer pädagogischen Praxis erleben wir, wie politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt und der institutionelle Alltagsrassismus der Behörden, der Politik und der Medien sowie die weitgehende gesellschaftliche Gleichgültigkeit zu einem Vertrauensverlust und zur Erfahrung verweigerter Zugehörigkeit führen. Es ist unsere Aufgabe, alles dafür zu tun, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, mit denen wir zusammenarbeiten, vor Diskriminierungen und Verletzungen zu schützen und sie parteilich zu begleiten im Umgang mit individuellen wie institutionellen Rassismuserfahrungen. Daher wenden wir uns auch besonders gegen die Praxis des Racial Profiling bei Polizei und Grenzschutz.

Wir treten dafür ein, Rassismus im Alltag zu benennen und öffentlich anzuklagen.

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Folgende Personen unterstützen diesen Aufruf:

  1. Sayed Jafer Akhzarati, Leiter des Projekt FARQ, Bremen
  2. Prof. Dr. Birgit Ammann, Fachhochschule Potsdam
  3. Prof. Dr. Beate Aschenbrenner-Wellmann, Evang. Hochschule Ludwigsburg
  4. Süleyman Ateş, Leitungsteammitglied des Bundesausschuss Diversität – Migration und Antidiskriminierung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
  5. Prof. Dr. Iman Attia, Alice Salomon Hochschule Berlin
  6. Dean Babic, Referent für Pädagogik, SOS Kinderdorf e.V.*
  7. Prof. Dr. Heinz Bartjes, Hochschule Esslingen
  8. Zeljka Blank-Antakli, Sozialpädagogin (FH), Kreuzlingen, Schweiz*
  9. Angela Blonski, Geschäftsführerin des Vereins Lilith e.V. Pforzheim*
  10. Paula Bock, Pädagogische Hochschule Freiburg*
  11. Dr. Manuela Bojadzijev, Humboldt Universität zu Berlin
  12. Prof. em. M. Brumlik, Zentrum für jüdische Studien Berlin/Brandenburg
  13. Mart Busche, Universität Kassel
  14. Dr. Carsten Bünger, Technische Universität Dortmund
  15. Prof. Dr. Gazi Çağlar, Fachhochschule Hildesheim
  16. Prof. Dr. Clemens Dannenbeck, Hochschule Landshut
  17. Katharina Debus, Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V., Berlin*
  18. Jürgen Dorn, Geschäftsführer Landesjugendring Baden-Württemberg
  19. Sabine Eulerich – Gyamerah, Diplom-Pädagogin, Tübingen*
  20. Michael Fähndrich, Geschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit, Tübingen
  21. Prof. Dr. Dieter Filsinger, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
  22. Hermann Flothkötter, Geschäftsführer Pax Christi, Münster
  23. Andreas Foitzik, Leiter des Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie Reutlingen
  24. Prof. Dr. Karl Foitzik, Evangelische Hochschule Nürnberg
  25. Prof. Dr. Gaby Franger-Huhle, Hochschule Coburg
  26. Prof. em. Dr. Stefan Gaitanides, Fachhochschule Frankfurt
  27. Antje Glöckler, Fachdienst Jugend, Bildung, Migration, BruderhausDiakonie Reutlingen*
  28. Prof. Dr. Mechtild Gomolla, Helmut Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
  29. Prof. Dr. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Justus – Liebig – Universität Gießen
  30. Prof. Dr. Frigga Haug, Vorsitzende des Instituts für Kritische Theorie Berlin und Professorin an der Universität für Wirtschaft und Politik Hamburg (i.R.)
  31. Dr. Alisah Heinemann, Universität Wien
  32. Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Held, Universität Tübingen
  33. Jutta Heppekausen, Pädagogische Hochschule Freiburg*
  34. Wolfgang Hinz-Rommel, Abteilungsleiter Diakonisches Werk Württemberg*
  35. Prof. Dr. Anton Hochenbleicher-Schwarz, Duale Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen
  36. Prof. Dr. Alfred Holzbrecher, Pädagogische Hochschule Freiburg
  37. Rino Iervolino, Vorstandsmitglied des Landesverbands der kommunalen Migrantenvertretungen in Baden-Württemberg
  38. Prof. Dr. Lena Inowlocki, Frankfurt University of Applied Sciences
  39. Dr. Margarete Jäger, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS)
  40. Olaf Jantz, Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit Niedersachsen und Mannigfaltig e.V. – Institut für Jungen- und Männerarbeit
  41. Dr. Elizabeta Jonuz, Universität zu Köln
  42. Prof. Dr. Annita Kalpaka, Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hamburg*
  43. Beatrix Kayser, Diplom-Pädagogin, Böblingen*
  44. Andrea Kees, Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie, Nürtingen*
  45. Prof. Dr. Fabian Kessl, Universität Duisburg-Essen
  46. Harald Kielmann, ver.di Bildungszentrum Mosbach
  47. Prof. Dr. Sebastian Klus, Duale Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen
  48. Prof. Dr. Michaela Köttig, Frankfurt University of Applied Sciences
  49. Adetoun Küppers-Adebisi, AFROTAK TV cyberNomads Berlin
  50. Michael Küppers-Adebisi, AFROTAK TV cyberNomads Berlin
  51. Christina Lede Abal, Diplom-Pädagogin, Tübingen*
  52. Prof. Dr. Rudolf Leiprecht, Universität Oldenburg
  53. Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit, Hochschule Coburg
  54. Prof. Dr. Helma Lutz, Goethe Universität Frankfurt/M.
  55. Prof. Athanasios Marvakis, Aristotle University of Thessaloniki*
  56. Prof. Dr. Paul Mecheril, Universität Oldenburg
  57. Prof. Dr. Claus Melter, Hochschule Esslingen*
  58. Resa Memarnia, Referent Rassismus und Rechtsextremismus, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V.
  59. Dr. Margarete Menz, Akademische Rätin, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd*
  60. Prof. Dr. Ulrich Mergner, Fachhochschule Köln
  61. Prof. Dr. Astrid Messerschmidt, Technische Universität Darmstadt*
  62. Dr. Jürgen Micksch, geschäftsführender Vorstand der Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus
  63. Josef Minarsch-Engisch, Referent im Diakonischen Werk Württemberg*
  64. Doro Moritz, Vorsitzende GEW Baden-Württemberg, Stuttgart
  65. Inge Mugler, Referentin Interkulturelle Sozial Arbeit, Diakonisches Werk Württemberg, Stuttgart*
  66. Conny Nerz, Haus der Familie Hemelingen/Familienzentrum MOBILE, Bremen
  67. Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Goethe Universität Frankfurt am Main
  68. Dr. Jobst Paul, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung
  69. Prof. Dr. Uli Pfeifer-Schaupp, Evangelische Hochschule Freiburg
  70. Dr. Axel Pohl, Erziehungswissenschaftler, IRIS e.V. Tübingen*
  71. Ralf-Erik Posselt, Gewalt Akademie Villigst
  72. Prof. Dr. Claudia Rademacher, Fachhochschule Bielefeld
  73. Amina Ramadan, Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie Nürtingen*
  74. Prof. Dr. Nora Räthzel,Universität Umeå, Schweden
  75. Angela Rein, Fachhochschule Nordwestschweiz, Basel*
  76. Prof. Dr. Christine Riegel, Pädagogische Hochschule Freiburg*
  77. Inka Rohrßen, Diplompädagogin, Tübingen*
  78. Prof. Dr. Roland Roth, Hochschule Magdeburg-Stendal
  79. Hülya San, Elternseminar der Stadt Stuttgart/Jugendamt*
  80. Prof. Dr. Karin E. Sauer, Duale Hochschule Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen*
  81. Dr. Wiebke Scharathow, Pädagogische Hochschule Freiburg*
  82. Björn Scherer, Tübingen*
  83. Prof. Dr. habil. Albert Scherr, Pädagogische Hochschule Freiburg*
  84. Prof. Dr. Barbara Schramkowski, Duale Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen*
  85. Dr. Hubertus Schröer, Institut – Interkulturelle Qualitätsentwicklung München
  86. Apl. Prof. Dr. Axel Schulte i.R., Hannover
  87. Prof. Dr. Erika Schulze, Fachhochschule Bielefeld
  88. Prof. Dr. Helen Schwenken, IMIS – Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Osnabrück
  89. Prof. Dr. Titus Simon, Hochschule Magdeburg-Stendal
  90. Gökay Sofuoğlu, Sozialarbeiter, Stuttgart
  91. Prof. Dr. Susanne Spindler, Hochschule Darmstadt
  92. Dr. Christian Staffa, Studienleiter der Evangelischen Akademie zu Berlin
  93. Prof. Dr. Barbara Stauber, Universität Tübingen*
  94. Eva Thien, Kinder- und Jugendbüro Stadt Wiesloch*
  95. Prof. em. Dr. Hans Thiersch und Renate Thiersch M.A., Universität Tübingen
  96. Prof. Dr. Andreas Thimmel, Fachhochschule Köln
  97. Ulrike Thrien, Diplom-Pädagogin, Tübingen*
  98. Cristina Torres Mendes, basis & woge e.V., Hamburg*
  99. Michael Tunc, Bundesweites Netzwerk Männlichkeiten, Migration und Mehrfachzugehörigkeiten e.V.
  100. Aleksandra Vohrer, Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie Reutlingen*
  101. Walter Weissgärber, Bereichsleiter Migration und Integration, BAG Evang. Jugendsozialarbeit e.V.
  102. Prof. Dr. Norbert Wenning, Universität Koblenz-Landau
  103. Petra Wiedemann, Fachhochschule Köln
  104. Bernhard Wilmes, Fachhochschule Köln
  105. Gisela Wolf, Referentin im Diakonischen Werk Württemberg*
  106. Nuran Yiğit, Diplom-Pädagogin, Vorständin Migrationsrat Berlin-Brandenburg
  107. Dr. Safiye Yıldız, Universität Tübingen*
  108. Danyal Yüksektepeli, Diplom-Sozialpädagoge, Pforzheim*

* Mitglieder des Netzwerks rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg

Organisationen/Verbände/Netzwerke, die den Aufruf unterstützen:

  1. Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus
  2. pax christi – Deutsche Sektion e.V.
  3. Interkultureller Rat in Deutschland e.V.
  4. Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus
  5. Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V.
  6. GEW Landesverband Baden-Württemberg
  7. LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg e.V.
  8. Bildungswerkstatt Migration & Gesellschaft
  9. Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V., Berlin
  10. Lebenshaus Schwäbische Alb
  11. Mannigfaltig e.V. – Institut für Jungen- und Männerarbeit, Hannover
  12. Sprachraum e.V. – antirassistische Sprachwerkstatt Hamburg
  13. Stadtjugendring Mannheim e.V.
  14. Stadtjugendring Stuttgart e.V.
  15. verikom – Verbund für interkulturelle Kommunikation und Bildung e.V., Hamburg

Begründung:

Wir schreiben diesen Aufruf als Erziehungswissenschaftler_innen und Pädagog_innen aus allen Feldern der Sozialen Arbeit und Bildung. Wir sehen uns durch unseren professionellen Auftrag in pädagogischen Berufen, durch Sozialgesetzbuch und Ethikrichtlinien dazu verpflichtet, Rassismus in unserem jeweiligen Feld zu erkennen und uns gegen rassistische Gewalt und institutionellen Rassismus einzusetzen.

Rassismuserfahrungen wirken ausgrenzend, sie verletzen und können traumatische Wirkungen haben. Wir sehen es als Aufgabe der Pädagogik, rassistische Alltagserfahrungen in allen Bereichen – Ausbildung, Arbeitsmarkt, Freizeit, Medien, Polizei – wahrzunehmen und im Rahmen unseres professionellen Auftrags zu bearbeiten.

Unter Rassismus verstehen wir ein historisch entstandenes gesellschaftliches Ordnungsmuster, in dem Personen aufgrund äußerer Merkmale, nationaler Herkunft oder kultureller Zuschreibungen einer Gruppe zugeordnet und nicht mehr als Individuen anerkannt werden. Diese Gruppen werden abgewertet und zu Fremden und damit Nichtzugehörigen gemacht, sodass ihre Schlechterstellung in der Gesellschaft legitim erscheint.

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hat seine Opfer nach rassistischen Kriterien ausgewählt und ermordet. Die Ermordeten entstammen zwar der Mitte unserer Gesellschaft. Da sie aber als „Türken“ und „Griechen“ und damit als „Fremde“ betrachtet werden, war es auch für den NSU naheliegend, sich dieser Kategorisierung zu bedienen.

Institutioneller Rassismus* zeigt sich, wenn Institutionen diese rassistischen Zuordnungen übernehmen und daraus für die so markierten Personen systematische Benachteiligungen folgen. Institutioneller Rassismus bedeutet nicht, dass alle, die in dieser Institution oder Behörde arbeiten, eine persönliche rassistische Absicht verfolgen. Der Rassismus ist vielmehr in den Regelungen und Routinen der Institution so eingewoben, dass diese durch Vorurteile, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierung Diskriminierung erzeugen, ohne dass es den Beteiligten auffällt.

Die Stephen-Lawrence-Kommission, die den rassistischen Mord an dem afrobritischen Teenager Stephen Lawrence und die rassistisch belasteten polizeilichen Ermittlungen in Großbritannien untersuchte, definierte institutionellen Rassismus „als kollektives Versagen einer Behörde bzw. Institution“ bei der Bereitstellung adäquater und professioneller Dienstleistungen aufgrund der Einordnung von Hautfarbe, kultureller oder ethnischer Herkunft.

Institutioneller Rassismus wurde im Fall der NSU-Ermittlungen in vielfältiger Weise sichtbar. Landes- und Bundespolizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutzbehörden sowie Innenministerien haben so gut wie ausschließlich im Umfeld der neun Opferfamilien mit Migrationsgeschichte recherchiert und andere Spuren in Richtung von Täter_innen ohne Migrationsgeschichte systematisch und in unzulässiger Weise ausgeblendet. Weil die rassistischen Motive der Täter_innen von Beginn der Mordserie an ausgeschlossen wurden, sind Spuren nicht verfolgt worden und weitere Morde konnten verübt werden. Die Morde geschahen – wie beim Mord an Halit Yozgat in Kassel – auch unter den Augen von Verfassungsschutzbeamten.

Die Verdächtigungen gegenüber den Familienangehörigen der Opfer, die Unterstellungen, an den Morden direkt oder indirekt beteiligt gewesen zu sein, waren demütigend und verletzend** und haben das Vertrauen in deutsche Behörden und Polizei massiv beschädigt.

Dies betrifft auch die Behörden in Baden-Württemberg. Im Falle des NSU-Mordes an der Polizistin Kiesewetter wurde nicht im Bereich des organisierten Rechtsextremismus, sondern gegen Sinti und Roma ermittelt. Der Zusammenhang zu der Ku-Klux-Klan-Mitgliedschaft eines ehemaligen Vorgesetzten der Polizistin ist ebenso ungeklärt wie die Rolle der verdeckten Ermittler und der Verfassungsschutzbehörden.

Eine eindeutige Positionierung einflussreicher Medien sowie der Politik haben wir lange vermisst. Auch dadurch ist versäumt worden, die Zugehörigkeit der Opfer und ihrer Angehörigen zur deutschen Gesellschaft anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund ist die lückenlose Aufklärung der Verbrechensserie von hoher symbolischer und politischer Bedeutung für das von Einwanderung geprägte Bundesland Baden-Württemberg und für die Bundesrepublik insgesamt.

Nicht wenige Pädagog_innen – auch aus unserem Netzwerk – haben verkannt, wie ausgrenzend der Umgang mit den NSU-Verbrechen auf diejenigen gewirkt hat, die eine Migrationsgeschichte mitbringen oder als Migrant_innen betrachtet werden. Die Verdächtigungen haben die Erfahrung der Betroffenen vertieft, nicht als Bürger_innen anerkannt zu werden. Zu schnell wird dieses Thema in die Schublade „Rechtsextremismus“ gesteckt und nicht als allgemeines gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Umso wichtiger ist eine Thematisierung des verkannten Rassismus in den anstehenden parlamentarischen Untersuchungen.

Trotz des Erschreckens angesichts der Gewalt gegenüber den Mordopfern und ihren Familien wird zu wenig beachtet, welche Bedeutung die rassistische Auswahl der Mordopfer hat. Es hätte viele treffen können, die als nicht zugehörig zur deutschen Gesellschaft eingeordnet werden. Dies erzeugt Ängste und Misstrauen. Für viele ist der NSU-Komplex eine Zäsur ähnlich den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock und den Morden von Solingen und Mölln. Die fehlgeleiteten Ermittlungen und die lange Nichtverfolgung der Neonazibewegung, aus der sich die Täter_innen der NSU-Verbrechen rekrutierten, betrachten wir als Einschnitt in der bundesdeutschen Strafverfolgungsgeschichte.

Das lange Schweigen weiter Teile der Öffentlichkeit zu den rassistischen Morden und den rassistischen Ermittlungsformen, auch unser Schweigen als Pädagog_innen, wird von vielen Migrant_innen und von Rassismus Betroffenen als fehlende Solidarität erlebt.

Der sichtbar gewordene institutionelle Rassismus im Kontext der NSU-Ermittlungen steht in einem Zusammenhang mit der langen Geschichte des Rassismus in politischen Strukturen, institutionellen Verfahren und im Alltagshandeln. Er äußert sich heute u.a. in den Methoden des Racial Profiling und den sich daraus ergebenden Kontrollen und Verdächtigungen der Polizei und des Bundesgrenzschutzes gegenüber Personen, die in Bezug auf ihr Äußeres als „nicht-weiß“ und „nicht-deutsch“ kategorisiert werden. Diese alltäglichen Erfahrungen vieler Bürger_innen verstärken das Gefühl, als bedrohlich, kriminell und fremd betrachtet zu werden.

Großbritannien hat gezeigt, dass es möglich ist, institutionellen Rassismus wirksam zu thematisieren und zu bekämpfen. Der rassistische Mord an dem schwarzen Schüler Stephen Lawrence im Jahr 1993 wurde in ähnlicher Weise von Polizei und Strafverfolgungsbehörden behandelt, wie die NSU-Morde in Deutschland. Auf öffentlichen Druck wurde 1997 eine Untersuchungskommission unter Sir William Macpherson eingerichtet, die 1999 zu dem Schluss kam, dass es sich bei den Ermittlungen der Metropolitan Police um institutionalisierten Rassismus handelte. Die daraus erfolgten Ermittlungsfehler führten dazu, dass die Täter erst nach 18 Jahren überführt werden konnten. Die Beteiligten erkannten in dem Bericht der Stephen Lawrence Kommission „einen der wichtigsten Momente der modernen Rechtsprechung in Großbritannien“. In der Folge gelang es, über eine Reform von polizeilichen Abläufen und durch weitere strukturelle Veränderungen wirksame Gegenmaßnahmen zu etablieren.

Viele Kolleg_innen in pädagogischen Feldern, auch in unserem Netzwerk, fühlen sich durch die rassistischen Praktiken bedroht, nicht oder wenig geschützt und fordern eine offensive Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus.

Die bundesdeutsche Öffentlichkeit ist dringend aufgefordert, zu den rassistischen Morden und Ermittlungspraktiken nicht zu schweigen, sondern sie anzuklagen und so Solidarität mit jenen zu signalisieren, die immer wieder die Erfahrung machen müssen, in dieser Gesellschaft keine Anerkennung und Gleichberechtigung zu erfahren.

Redaktion: Andreas Foitzik, Claus Melter, Astrid Messerschmidt, Wiebke Scharathow unter Mitarbeit von Hüseyin Ertunç, Annita Kalpaka, Christina Lede Abal, Axel Pohl, Christine Riegel, Albert Scherr und weiteren Kolleg_innen, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollen.

November 2014

* Ausführlicher: http://www.ida-nrw.de/publikationen/ueberblick/ueberblick.html zurück

** Eindrucksvoll nachzulesen u.a. im Buch von Semiya Şimşek, deren Vater von der NSU ermordet wurde:
http://www.tagesschau.de/inland/interview-simsek100.htmlzurück

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