DIE UKRAINE RETTEN. Update vom 22. Mai


„Wenn man die Lage unvoreingenommen betrachtet, wird man schnell feststellen, dass es nur einen Weg für das Überleben der Ukraine und für eine Zukunft des ukrainischen Volkes gibt – und der besteht darin, diesen Krieg schnellstmöglich durch eine politische Lösung zu beenden. Wer jedoch auf dem bisherigen Weg weitergehen will, muss wissen, dass er sich eine unverantwortbar große Schuld auflädt. Und er sollte bereit sein, dem ukrainischen Volk zu sagen, welche weiteren Verluste an Menschenleben und welches Ausmaß an Zerstörungen des Landes er ihnen für das Erreichen politischer Ziele zumutet, die nicht erreichbar sind.“ (Harald Kujat, in PAZ vom 2. Mai 2024) [1]

Inzwischen sind von der militärisch überlegenen russischen Armee weitere Ortschaften östlich von Charkiv eingenommen worden, ebenso westlich von Avdijeka. Die russische Armee rückt schrittweise vor. Nach vorherrschender Ansicht scheint es gegenwärtig nicht das Ziel der russischen Armee zu sein, Charkiv selbst zu erobern, sondern eher die vier Regionen, die Russland am 30. September 2022 annektiert hat, zu erobern und diese zu „konsolidieren“. Es scheint so, dass die Eroberung  der beschriebenen Ortschaften dem Ziel dient, die ukrainische Armee stärker von Angriffen auf russisches Gebiet jenseits der Grenze abzuhalten, insbesondere auf die Region um die Stadt Belgorod.

Verantwortlich handeln

Was wir seit nun über einem Jahr prognostiziert haben: die Ukraine befindet sich inzwischen trotz großer Waffenlieferungen vor allem der Vereinigten Staaten  und Europas unumkehrbar in der Defensive – und dies nun in wachsender Beschleunigung, bis hin zu einer nicht mehr ausgeschlossenen militärischen Niederlage. Damit rächt sich auf tragische Weise, dass der ukrainische Präsident seinerzeit, während der erfolgreich betriebenen Friedensverhandlungen von März/ April 2022 sich nicht gegenüber Großbritannien, den Vereinigten Staaten und schließlich der NATO, also auch Deutschland, hat durchsetzen können oder wollen. (Vgl mein Beitrag: „Ukraine – Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden.“ Berlin Juni 2023)

In absehbarer Zeit findet sich auch nicht der Ansatz einer Umkehrung der militärischen Kräfteverhältnisse an den inzwischen sehr weit ausgedünnten Verteidigungslinien der ukrainischen Streitkräfte. Die etwa gut 13 Mrd € für die militärische Unterstützung der Ukraine durch die Vereinigten Staaten, die überdies sehr verzögert eintrifft, ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Die fantastischen Reden deutscher Bellizisten um Hofreiter, Strack-Zimmermann oder Wadepuhl und GameChanger-Propheten sind schlicht unverantwortlich, gegenüber den Menschen in der Ukraine – und eine Irreführung gegenüber der deutschen Öffentlichkeit.

Sie sind deswegen unverantwortlich, weil sie das Leid verlängern und intensivieren, nachdem schon weit über 500.000 Tote und Verletzte im Ukraine-Krieg zu beklagen sind. Es gehört zur Verantwortungsethik, dass man nicht sehenden Auges oder sogar blind auf eine Eskalation des Blutzolls setzt, obwohl man weiß, dass das gewünschte Ziel nicht erreicht werden kann! Das meinte Jürgen Habermas, als er vor über einem Jahr davor warnte, unter ethischen Gesichtspunkten nicht außer acht zu lassen, was die „zermalmenden Gewalt“ dieses Krieges an Zerstörung und Traumatisierung auslöst. Ein Ethik, die diesen Namen verdient, muss komplex sein und darf sich nicht auf ein schwarz-weiß reduzieren, erst recht, wenn dies dazu führt, dass sich der Krieg endlos verlängert, wie im Ersten Weltkrieg auf über 4 Jahren.

In den Vereinigten Staaten weitet sich die Diskussion aus, wie man diesen Krieg mit einem Waffenstillstand beendet und in Verhandlung tritt. Das auch im Wissen, dass die finanzielle Unterstützung durch den Kongress die lange Zeit letzte sein dürfte. Deswegen spricht einiges dafür, dass man nur noch über den Wahltag kommen und nicht eine Niederlage einhandeln will, weil dies die Chancen des einen oder anderen am Wahltag schmälert.

Verspielte Verhandlungschancen

Die Kriegsgegner Russland und Ukraine haben schon vor zwei Jahren Friedensverhandlungen zugestimmt und beinahe damit Erfolg gehabt; sie waren durch die Vereinigten Staaten und Großbritannien und dann die NATO daran gehindert worden. (Vgl https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-15-vom-26-oktober-2023.html#article_1574)

Das lag auch daran, dass insbesondere die Vereinigten Staaten Fehleinschätzungen aufgesessen waren und glaubten, Rußland zur Einstellung des Angriffs zwingen zu können. Man glaubte, die ukrainischen Streitkräfte seien in der Lage, die von Russland eroberten Gebiete zurückzuerobern. Man glaubte Russland, politisch wirtschaftlich und militärisch entscheidend schwächen zu können.[1]

Nur so ist zu verstehen, dass sowohl die Friedensinitiative vom März 2022 verworfen worden ist wie auch die Chance, den Krieg zu verhindern, verspielt worden war: in den Jahren zuvor und vor allem in den Wochen und Monaten vor dem Beginn des russischen Angriffs durch eine Mischung von Arroganz und Ideologie.

Deutschland ist diesen Vorgaben der Vereinigten Staaten eilfertig gefolgt, sprach vom Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, davon, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf bzw. den Krieg nach Russland tragen zu wollen. Ausdruck einer Mischung von Inkompetenz, Ignoranz und Ideologie.

Neu aktivierte Verhandlungsinteressen. Update

Es ist durchaus von erheblicher Bedeutung, wenn der russische Präsident während seines Peking Besuchs die Bestrebungen Chinas lobt, „den Konflikt um die Ukraine zu beenden. Er habe mit Partei und Staatschef Xi Jinping ausführlich über den Krieg gesprochen.“ (Vgl Tagesspiegel vom 18. Mai 2024) Dazu erscheint aus der russischen Sicht wichtig, Diskriminierungen zu vermeiden und die Sicherheitsinteressen beider Seiten zur Grundlage zu machen. Es zeigt, dass die seit geraumer Zeit erneut aktiv betriebene Verhandlungsinitiative Chinas nach wie vor von Bedeutung ist.

Die geplante Konferenz des ukrainischen Präsidenten in der Schweiz dagegen scheint bisher nicht von dem Erfolg gekrönt zu sein, den sich der Präsident ausmalt. Ohne Einladung an den Kriegsgegner werden viele der angefragten Staaten wegen fehlender Erfolgsaussichten nicht teilnehmen. Im Land selbst sind es gerade noch 17 %, die hinter dem ukrainischen Präsident stehen. Sie sehen, dass eine Verlängerung des Krieges zu noch mehr Zerstörung führt, ohne Aussicht auf Erfolg, auch wenn dies wenn auch weniger ihre westlichen Unterstützer nach wie vor annehmen.

Da wir gegenwärtig große und zunehmend destruktive Erschütterungen in der politischen und militärischen Sphäre der Ukraine beobachten, ist auch nicht ausgeschlossen, dass im Rahmen einer weiteren Machtverschiebung zugunsten des Militärs in der Ukraine diese mit den Vernünftigeren im russischen Militär die Kriegshandlungen eindämmen oder unterbrechen.

Der ukrainische Präsident sieht sich angesichts dieser Lage zunehmend in der Defensive. Die zugesagten Waffenlieferungen aus den Vereinigten Staaten kommen nicht rechtzeitig und sind nicht ausreichend; dies mag inzwischen auch damit zu tun haben, dass so viel an Waffenlieferungen durchgeführt worden sind, dass die Verteidigungssubstanz, etwa der Bundeswehr darunter zu leiden beginnt, und die Vereinigten Staaten ihre eigenen Lager nicht leergefegt sehen wollen. Ob der ukrainische Präsident Zieldaten für Objekte in Russland bekommt, steht aus. Von den einmal avisierten 500.000 neu zu mobilisierenden Soldaten werden aller Wahrscheinlichkeit nur etwa 150.000 einberufen werden können und brauchen, wenn sie nicht Kanonenfutter sein sollen, mindestens einige Monate an Ausbildung.

Die halb versprochenen F-16 können nur eingesetzt werden, wenn die ukrainischen Piloten daran zureichend ausgebildet sind, sonst müssten dies andere tun. Die mehrfach inzwischen lancierte Vorstellung, man könne die Luftverteidigung der Ukraine auch aus NATO-Räumen organisieren, ist hochriskant, wenn nicht verwegen – wie überhaupt die Vorstellung, dass die NATO in den Krieg hineingezogen werden sollte.

An Optionen für den weiteren Verlauf der Kriegshandlungen bleiben nur drei Optionen:

  • Zum einen, es darauf ankommen zu lassen und irgendwie von einer Wende im Kriegsgeschehen zu träumen – und der Niederlage entgegen zu sehen;
  • zum anderen, doch noch darauf zu setzen, die gegenwärtig drohende Niederlage durch den Versuch – trotz fehlenden Personals und fehlender zureichender Waffen insbesondere zur Luftverteidigung – die Linien einigermaßen zu halten, auf neue Waffenlieferungen zu setzen und in den Zehnjahresverträge mit befreundeten Staaten und der NATO die eine oder andere Unterstützung zu erhalten und
  • drittens naheliegender Weise, in Verhandlungen einzuwilligen, wie dies inzwischen der stellvertretende Chef des ukrainischen Geheimdienstes voraussieht.

Statt dass sich unsere Nationen in diesem ultragefährlichen Krieg mit seiner für Kriege typischen Eskalation bis zum Äußersten über Jahre verstricken, ist es, im Sinne der Rettung der Ukraine, der Chance auf eine Deeskalation und auf einen Frieden geboten, endlich Verhandlungen mit dem Feind zu testen und womöglich erfolgreich zu führen – sei es auf Vermittlung Chinas, der Türkei und vor allem der Vereinten Nationen. Europa sollte dabei sein. In diesem Sinne: Die Hoffnung auf eine solche Entwicklung ist noch nicht erloschen.


[1] In „Moon of Alabama“ vom 14. Mai 2024 findet sich eine realistische Einschätzung der militärischen und politischen Lage der Ukraine:

„An Army And Country At Their End. Stephen Byren writes, correctly, that the purpose of the Russian offensive towards Kharkiv is to disintegrate the Ukrainian army: To my mind, Russia’s objective is to force Ukraine’s army to chase after invading Russian units. The idea is to cause heavy casualties on the Ukrainian side and, if all goes according to plan, either to split Ukraine’s army into two, or disintegrate it altogether. In such a manner the idea is not just to take territory but to destroy Ukraine’s ability to resist. There are many indicators that Russia is having success in the ongoing operation.

General Kyrylo Budanov, the head of the Ukrainian military intelligence agency, (which includes foreign fighters and Nazis units,) agrees to that. He paints an bleak picture (archived): Like most Ukrainian officials and military experts, General Budanov said he believes the Russian attacks in the northeast are intended to stretch Ukraine’s already thin reserves of soldiers and divert them from fighting elsewhere. That is exactly what is happening now, he acknowledged. He said the Ukrainian army was trying to redirect troops from other front line areas to shore up its defenses in the northeast, but that it had been difficult to find the personnel. “All of our forces are either here or in Chasiv Yar,” he said, referring to a Ukrainian stronghold about 120 miles farther south that Russian troops have assaulted in recent weeks. “I’ve used everything we have. Unfortunately, we don’t have anyone else in the reserves.” The Ukrainian military has pulled out parts of various brigades that are engaged in the east and is moving them north towards the Kharkiv region. This will be a hodgepodge of partly filled battalions without a unified command and with nothing left to stuff any holes elsewhere. Budanov correctly fears that Russian can and will repeat this game in other places:

General Budanov said he expected the attacks in the Kharkiv region to last another three or four days, after which Russian forces are expected to make a hard push in the direction of Sumy, a city about 90 miles to the northwest of Kharkiv. Ukrainian officials have previously said that Russia had massed troops across the border from Sumy. Pavlo Velycho, a Ukrainian officer operating near the Russian border in the Sumy region, said that Russian shelling of the outskirts of Sumy had recently increased. The Russian forces can easily progress because the money allocated for fortifications in the Kharkiv and Sumy regions was paid to fictitious companies without any trenches ever being build (machine translation): Multi-million contracts for the construction of fortifications, for which they spent a total of 7 billion hryvnias there, were transferred by the Kharkiv OVA to front companies of avatars. It so happened that the department of the Kharkiv OVA for defense purchases chose newly registered no-name firms and FOPs. Moreover, the owners of these firms do not resemble successful businessmen and businesswomen-they have dozens of court cases, from whiskey theft to domestic violence against their husband and mother, some of them are deprived of parental rights and have had enforcement proceedings for loans in banks. Another interesting detail-it seems that these beneficiaries do not even know that they are millionaires. After all, they continue to work in shifts“ in the fields “ and factories.

 The U.S. obviously fears that the Ukrainian army will not be able to hold its lines. Today Secretary of State Anthony Blinken arrived on an unannounced visit in Kiev to shore up moral, or probably to arrange for a change in Ukraine’s leadership: Blinken, who arrived in Kyiv by train early on Tuesday morning, hopes to „send a strong signal of reassurance to the Ukrainians who are obviously in a very difficult moment,“ said a U.S. official who briefed reporters traveling with Blinken on condition of anonymity. „The Secretary’s mission here is really to talk about how our supplemental assistance is going to be executed in a fashion to help shore up their defenses (and) enable them to increasingly take back the initiative on the battlefield,“ the official said. Blinken will reassure Ukrainian officials including President Volodymyr Zelenskiy of enduring U.S. support and deliver a speech focused on Ukraine’s future, the official said.

Blinken and Biden need the Ukrainian army to hold until the November election is over. It is unlikely that they can achieve that aim. Some pause on the battlefield would now be convenient but that requires to get rid of Zelenski. U.S. media are emphasizing the $60 billion package passed by Congress for Ukraine. They neglect to explain that only $14.5 billion of that is actually going to Ukraine, half of it to keep the state solvent and the other half in form of weapons Ukraine might buy once they are build. The other money is designated to refill the U.S. military stockpile. The real military help for Ukraine during the next months, in form of artillery and anti-air ammunition, will be minuscule. There is nothing in there that can defend against the FAB glide bombs the Russian military is using in ever growing numbers to break up Ukrainian positions.

The last three days have each seen Ukrainian losses at about 1,500 per day – double the usual count – with most of them occurring on the eastern front, not in the Kharkiv direction. Currently the replacement rate through Ukrainian mobilization is said to be only 25% of the losses that are actually occurring.

Everyone knows that the war is coming to an end. That there will be a victor, Russia, and a lot of losers. The U.S. as well as the EU are now trying to find a face saving way to acknowledge that without admitting it. The easiest way will be to blame Ukraine, and especially its President Zelenski, for having not listened to western advice during some of the hotter phases of the war (Bakhmut etc). „We gave them a chance and they blew it,“ will soon become the major tenor of official statements. But in reality there never was a chance for Ukraine to defeat or even to weaken Russia. All numbers, capacities and people, pointed against that. Despite that fact it was pushed to its death by western delusion. One hopes that its people, and others, will have learned from it.“


[1]  In der Zeitschrift „Cicero“ vom 30. April kritisiert Jack Matlock, langjähriger Diplomat unter Reagan und seinem Nachfolger die Eskalationspolitik gegenüber Russland  in einem Interview unter dem Titel „Russland, Ukraine und US-Außenpolitik. -Der Kalte Krieg endete durch Verhandlungen“

Auf die Frage:“Hätte dieser Einmarsch (Russlands in die Ukraine) verhindert werden können?“ antwortete er:

„Gewiss. Er war eine Tragödie. Wo wir doch schon von Deutschland und Frankreich sprechen, beide waren an den Minsk-Abkommen beteiligt, und wenn die Ukraine das Abkommen umgesetzt hätte, wäre dieser Krieg niemals passiert. Frau Merkel sagt jetzt, sie hätten die Minsk-Verträge nur dazu genutzt, um den Ukrainern mehr Zeit beim militärischen Aufbau und der Rückeroberung des Donbass zu verschaffen. Aber ich denke, es ist eindeutig im deutschen Interesse, mit Russland in Frieden zu leben und enge wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. Beide Staaten ergänzen sich: Russland hat die Rohstoffe, die Deutschland braucht, und umgekehrt Deutschland die Technologie, von der die Russen profitieren. Und jetzt müssen die Deutschen Energie zu weitaus höheren Preisen kaufen, und ihre Industrie verliert an Wettbewerbsfähigkeit.“