Gaza stirbt – und wir?


Der von Ministerpräsident Netanjahu trotz einer Weltgemeinschaft, die Waffenstillstand will, brutal weitergetriebene Gaza-Krieg hat inzwischen weit über 120.000 Tote und Verletzte gefordert; die Hälfte der Bevölkerung von Gaza – vertrieben und ohne Sicherheit – wird den Hungertod in den nächsten Monaten erleiden, wenn es nicht zum Waffenstillstand kommt. Die israelische Regierung aber will den Krieg bis zum Ende des Jahres weiterführen. Die Palästinenser sind auf dem Weg in ihren Genozid.

Es ist gut, dass an immer mehr Universitäten bundesweit – jüngst in Hannover mit der ausdrücklichen Unterstützung des dortigen Universitätspräsidenten – gegen diesen Kriegs-Wahnsinn demonstriert wird, auch durch Besetzungen. Und es ist kurzsichtig und kleingeistig, wenn aus angeblichen Gründen der Staatsräson darüber geschwiegen werden soll und von der TU Präsidentin Geraldine Rauch, die sich um eine solche Diskussion bemüht, aus der Politik ihr Rücktritt gefordert wird, obwohl sie sich überzeugend ihrem Fehler (dem Like eines antisemitischen Post) stellt. (Wäre es nicht ein Vorbild für den Regierenden, der ohne Kenntnis der Sachlage angesichts der beginnenden Besetzung eines Theaterhofs an der Freien Universität Anfang Mai von Antisemitismus an der Freien Universität sprach, ohne hierfür einen Beleg gehabt zu haben?)

Moshe Zimmermann: Die inflationäre Verwendung des Alarmsignals „Antisemitismus“ durch Politik und Öffentlichkeit ist verheerend (Tagesspiegel vom 5. Juni 2024)

Zu recht fragt der israelische Antisemitismushistoriker Moshe Zimmermann im Tagesspiegel vom 5. Juni, wer eigentlich über die Deutungshoheit des Begriffs Antisemitismus verfügt: „Jeder Angehörige der jüdischen Gemeinschaft, weil das potentielle Angriffsziel der Antisemiten ist? Der Antisemit, da er ja diese Haltung vertritt? Oder der Sozialwissenschaftler, der sich mit diesem Phänomen als Objekt seiner Forschung befasst?“ Und er antwortet:  „Justiz, Politik und Öffentlichkeit müssen vor allem auf Sozialwissenschaftler, darunter Historiker, hören, wenn sie sich für den Kampf gegen Antisemitismus wappnen wollen. Spätestens seit sich der Zentralrat der Juden in Deutschland gegen die Entscheidung der TU Berlin positionierte, Professor Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des an der TU angesiedelten Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA), zum Antisemitismusbeauftragten zu ernennen, geht es um die praktische Umsetzung der Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Nicht zum 1. Mal äußert sich ein Vertreter des Zentralrats gegen das ZfA –  unlängst wurde dort vorgeschlagen, das Institut in“ Zentrum für Antisemitismus“ umzubenennen.

Zimmermann findet eine Erklärung für die Aversion des Zentralrats. Es sei die Tatsache, „dass sowohl der stellvertretende Direktor wie auch die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus zugestimmt haben. Als eine der Mitgestalter der Erklärung kann ich darauf nur mit Kopfschütteln reagieren: Im besagten Dokument kommt allein die Unzufriedenheit mit der vagen, stark auf die Variante israelbezogenen Antisemitismus konzentrierten Definition der IHRA (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) zum Ausdruck. In anderen Worten: die Befürworter der Jerusalemer Erklärung stehen für Präzisierung und Nachbesserung der IHRA Leitlinien, nicht mehr.

Eine solche prägnante und historisch fundierte Kerndefinition ist aber entscheidend für die ansonsten in Verwirrung, Chaos, Aggression und Polarisierung endenden gegenseitigen Antisemitismusvorwürfe wie wir dies von Politik und Öffentlichkeit erleben, die an Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson festhalten und deshalb die zu beachtende Unterscheidung zwischen Israels Existenzrecht und Israels politischen Maßnahmen oder auch zwischen Israel Feindschaft und Antisemitismus meiden oder  bewusst verwischen. Diese Entwicklung ist verheerend und führt erst recht zu einem Mehr an Antisemitismus. In den Worten von Moshe Zimmermann: „Im Fall der verwischten Konturen des Begriffs befindet sich der gesamte Kampf gegen Antisemitismus in Gefahr: Hat der Hirtenjunge zu oft vor dem vermeintlichen Wolf gewarnt, kommt keine Hilfe mehr, wenn der wahre Wolf, der pure Antisemitismus, die Schafe angreift“ und genau in dieser Falle sitzt die deutsche Debatte und führt zu immer mehr Wut, Polarisierung und – Antisemitismus.

Zur überzeugenden Debatte und zur Beurteilung von Antisemitismus braucht es „Expertise, Augenmaß und Feingefühl“

Für Moshe Zimmermann ist dabei völlig klar: „Der Jude als Blutsauger“ –  gehöre zum klassischen Antisemitismus, das von Hamas Anhängern benutzte rote Dreieck – zum sekundären Antisemitismus; „Zionismus ist ein Verbrechen“ – ebenfalls, da es den Juden das Recht auf nationale Selbstbestimmung abspreche. Demgegenüber ist seines Erachtens der pauschale Boykott israelischer Universitäten nicht unbedingt antisemitisch, ebenso wenig „Yalla Intifada“, solange es sich um die seit 1967 besetzten Gebiete handelt. Moshe Zimmermann fordert Expertise, Augenmaß und Feingefühl im Sinne der Aufklärung und des common sense.

Autoritärer Backlash. Feinderklärungen und Vernichtungswut in der Politik – und Gaza stirbt

„Die Kampagne gegen Rauch, angefacht von Springer und CDU, läuft auf Hochtouren. Das Ziel: Sie muss weg. Eine trübe Rolle spielt dabei der Berliner Antisemitismusbeauftragte, der behauptet, Rauch habe „haufenweise antisemitische Tweets“ gelikt. Beleg? Fehlanzeige. So funktionieren Hetzjagden.“ (Stefan Reinecke in der heutigen taz) Es habe seit dem deutschen Herbst keine so rabiaten Einschnitte in die Meinungs- und in die Versammlungsfreiheit mehr gegeben. Friedrich Merz betreibt alles zugleich: Moralische Selbsterhöhung; Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus – und ein begeistertes Ja zur Politik Netanjahus im Gaza Krieg.

Professor Dr. Miriam Rürup, Leiterin des Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam, hat am 7. Juni in einem vorzüglichen Interview für radioeins (rbb) auf die doppelten Standards aufmerksam gemacht, die Politiker insbesondere der CDU um Merz und Wegner in ihrer Hetze gegenüber der TU-Präsidentin umtreiben und hierbei gleich auch noch die Hochschulautonomie erschüttern. Wollen wir tatsächlich die Eskalation in Feindschaften und Denunziationen wie zur Zeit der Fünfzigerjahre durch McCarthy in den Vereinigten Staaten?

Was wir gegenwärtig beobachten, ist eine Schieflage in Öffentlichkeit und Politik im Umgang mit dem Antisemitismus. Differenzierung wird abgewehrt und politisch unter Kuratel gestellt. Und die Gefahr der missbräuchlichen Verwendung zum besseren Angriff gegen den Gegner als Feind wächst. Letztlich führt dies zur Zerstörung eines Diskurses, der gegenwärtig notwendig ist und uns auch dazu befähigen könnte, zu sehen, unter welchen Bedingungen der Anlass, der grauenhafte und immer weiter geführte Gaza-Krieg, beendet werden kann.