Micha Brumlik|Zur Klassenanalyse der Gegenwart: Peter Kern tritt in Siegfried Kracauers Spuren


Micha Brumlik

Zur Klassenanalyse der Gegenwart: Peter Kern tritt in Siegfried Kracauers Spuren 

Es ist nun gerade neunzig Jahre her, dass Siegfried Kracauer (1889-1966), Filmtheoretiker und Kultursoziologe aus dem Geiste der Kritischen Theorie sein Buch „Die Angestellten“ publiziert hat – ein Buch, das seither trotz einiger Versuche der Mittelschichtsoziologie der sechziger keine Nachfolge gefunden hat. Befasst es sich doch mit einem für die 1930er Jahre neuem Phänomen, das die herkömmlichen Kategorien jedenfalls klassischer marxistischer Analyse hinter sich liess: Lohnabhängige mit eher geringem Einkommen, die gleichwohl von Lebensstil und Mentalität nicht die Werte und Formen der Arbeiterschaft, des Industrieproletariats teilten. Ging es also um ein „Stehkragenproletariat“? 

Die Filmtheoretikerin Gertrud Koch charakterisiert Kracauers Blick auf die Angestellten so: „In dem Maße, in dem die Angestellten das Vorhandensein einer Mitte zwischen Arbeitern und Selbständigen suggerieren, soll auch ihr Äußeres von der durch den Arbeitsmarkt erzwungenen Versöhnung zwischen den Extremen künden.“

Heute, im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung verschwindet die Industriearbeitschaft als Klasse, wird in Teilen durch das ersetzt, was als „ Prekariat“ bezeichnet wird – wie aber steht derzeit um die „Angestellten“? Dieser Frage hat sich Peter Kern, ehemaliger poilitischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall in einem 2019 erschienenen Langessay unter dem Titel „Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie“ gestellt. (Verlag Westfälisches Dampfboot, 150 Seiten, )

Kern hat das Buch seinen Kindern als „Kursbuch fürs Leben gewidmet und ihm zudem ein Zitat des Apostel Paulus vorangestellt, nachdem jene Glieder des Leibes – so der Apostel in 1. Korinther 12,22 – die am schwächsten scheinen, womöglich die nötigsten. Die Angestellten in der postindustriellen, digitalen Gesellschaft? Kerns Buch umfasst mehr als zwanzig Kapitel, die sich unterschiedlichen Themen widmen: Von „ Das Büro im Regelbetrieb“ über „Spezialisten und Low Performer“ sowie „Der Rucksack-vom Bauzaun zum Büro“ bis zu einem fast abschliessenden Kapitel „Angestelltenbewusstsein? Selbstaufklärung!“

Dem Autor ist nur zu bewusst, welchem grossen Vorbild er nacheifert – besteht doch Kracauers klassische Studie aus einem gekonnten Mix von Anekdoten, theoretischen Analysen und essayistischen Reflexionen. Dem entspricht Kern, wenn er etwa theoretisch feststellt:

„Von einer bürgerlichen Kultur im Unterschied zu Angestelltenkultur zu reden, macht längst keinen Sinn mehr. Die bürgerliche Gesellschaft ist so konturlos geworden, weil sie seit der Wende des 19.zum 20. Jahrhundert den Angestellten, sofern sie zeitgemässe Funktionen erfüllten, immer wieder Aufnahme bot. Die unzeitgemässen Fraktionen gingen unter oder proletarisierten sich, die jeweils modernen durften sich nach dem Mittelstand geadelt fühlen und sich nach einer Bürgerlichkeit sehnen, die schon Kracauer als „verschollen“ bezeichnete.“

Entsprechend stellt Kern fest, dass die heutigen Angestellten das Grundmuster eines „überschaubaren Sets typischer Waren“ pflegen: nicht zuletzt das smartphone. Hinzu kommt ein Verhöhnen der Unterschicht, gezeigter Lifestyle wie der Urlaub in Florida und betonte Genussfähigkeit. 

Für die politische Organisation dieser Lohnabhängigen – das weiss der ehemalige IG Metall Sekretär nur zu gut – führt das zu erheblichen Schwierigkeiten, was sich aber die Gewerkschaften selbst zurechnen lassen müssen – sind doch Unternehmen und Verbändeeifrig damit befasst, den „Graben zwischen Gewerkschaften und Angestellten offen zu halten“ – was durch den Umstand verschäft wird, dass die Angestellten – so Kern – nicht gelernt haben, ihre Lage anders als aus einem individuellen Blickwinkel zu sehen. Nicht zuletzt neigen zumal die Angestellten sowohl einem durch Prestigekonsum und simulierter unternehmerischer Verantwortung hier als auch einem gleichwohl mangelndem Selbstbewusstsein dort zu.

Mit Peter Kern ebenso anschaulicher wie auch theoretisch luzider Studie steht den aktuellen Analysen über die „Gesellschaften des Zorns“, also die  sozialen Hintergründe des Rechtspopulismus sowie den Niedergang der klassischen Volksparteien, vor allem aber über die „Gesellschaft der Singularitäten“ nun ein Werk zur Seite, dem es überzeugend gelingt, diese Gegenwart aus der nur vermeintlich obsolet gewordenen Perspektive der Klassenanalyse zu beleuchten.