Plagiats- und Täuschungsvorwurf gegen Steinmeier ohne seriösen Beleg


Plagiats- und Täuschungsvorwurf gegen Steinmeier ohne seriösen Beleg.

Kamenz sollte „Prüfbericht“ schnellstens zurückziehen

Kurze vorläufige Stellungnahme zum von Herrn Kamenz und dem Focus erhobenen Vorwurf, Dr. Frank-Walter Steinmeier habe in seiner Dissertation: Bürger ohne Obdach (1992 an der Universität Gießen im Fachbereich Rechtswissenschaft) plagiiert.

In der letzten Ausgabe des FOCUS hat Prof. Uwe Kamenz Plagiatsvorwürfe gegen Herrn Dr. Steinmeier erhoben. In den folgenden Tagen wurde diese Meldung von vielen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. Anders als in vorherigen Fällen wurde ein Verdacht formuliert, ohne ihn gleichzeitig für die Öffentlichkeit auch nur im Ansatz und exemplarisch an Belegen überprüfen zu können.1

Um die Plausibilität der Vorwürfe zu prüfen, habe ich die Dissertation von Herrn Steinmeier und den „Prüfbericht“ von Herrn Kamenz gelesen und kontrolliert. Das Ergebnis: Die Vorwürfe entbehren jeder Grundlage. Die angeblichen Plagiate sind gar keine. Die Software ist nutzlos. Und das angebliche Ergebnis einer „Gesamtplagiatswahrscheinlichkeit“ von 63% ist nicht nachvollziehbar. Herr Kamenz sollte seinen Prüfbericht schnellstens zurückziehen und auch der Focus täte gut daran, seine Berichterstattung kritisch zu reflektieren – wollen beide den Vorwurf vermeiden, eine haltlose Rufmordkampagne lanciert zu haben.

Zu den Ergebnissen meiner Prüfung im Einzelnen:

1. Die angebliche „63 % Gesamtplagiatswahrscheinlichkeit“ entbehrt jeder Erklärung

Der Prüfbericht stützt seine Aussagekraft auf das scheinbar objektive Ergebnis einer „Gesamtplagiatswahrscheinlichkeit“ von 63 %. Dieses Ergebnis ist laut Kamenz die Grundlage für seine Einschätzung, die Universität könne aufgrund seiner Analyse den Doktortitel aberkennen. Ein Ausweis für diese weit reichende These ist in dem Prüfbericht aber nicht erkennbar, auch nicht eine statistische Rechnungslegung. Wie kommt Herr Kamenz zu dem Ergebnis einer „Gesamtplagiatswahrscheinlichkeit“ von 63%? Diese These wird im Prüfbericht in keiner Weise belegt. Die entsprechende Formel wird bewusst geheim gehalten, da man sich sonst kritisch auf sie stürzen könne.1 Das aber wolle man vermeiden, wie Herr Kamenz mir telefonisch mitteilte.2Eine geheim gehaltene Vermutung als Grundlage für die von Kamenz geforderte Aberkennung des Doktortitels? Das ist höchst unseriös und nicht zu halten.

2. Die angeblichen Plagiate sind gar keine!

Ich habe den sog. Prüfbericht von Herrn Kamenz – zunächst – stichprobenartig durchgesehen. Schon auf dieser Basis ergibt sich ein verheerendes Bild zur Sorgfalt dieses sog. Prüfberichts. Angeblich nicht oder falsch zitierte „Originalquellen“ (nach Kamenz) sind selber falsch zugeordnet oder falsch zitiert:

Dies gilt offenkundig auch für die von Herrn Prof. Gerhard Dannemann als möglicherweise gravierend betrachtete Seiten 45-46, 65 und 67-68. Im einzelnen:

1 Es gibt allerdings unter „Glossar“ auf Seite 276 einen geradezu banalen Hinweis auf den Schweregrad des von Herrn Kamenz erhobenen Vorwurfs. Ich zitiere wörtlich: „Entsprechend der Gesamtwahrscheinlichkeit wird ein Rating der Schwere durch die Ampelfarbe berechnet: grün (bis 19 %) = wenige Indizien unterhalb der Bagatellschwelle, gelb (20-49 % ) – deutliche Indizien enthalten, die eine Plagiatsbegutachtung durch den Prüfer notwendig machen; rot (ab 50 %) = Plagiate liegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vor, die eine Täuschungsabsicht dokumentieren. Bei publizierten Dissertationen sollte ein offizielles Verfahren zur Prüfung und/oder zum Entzug des Doktortitels eröffnet werden.“

Abgesehen von den syntaktischen Schwächen dieser Sätze geht es hier eingestandenerweise offenkundig nur um Wahrscheinlichkeiten. Alle sog. Prüfberichte bis 19 % sind Indizien unterhalb der Bagatellschwelle – sie machen aber einen beträchtlichen Teil der quantitativen Plagiatsvorwürfe im Fall der Dissertation Steinmeiers aus. Ohne sie käme man nicht auf 500!. Und: wie will man – ohne in den Sachverhalt der zitierten Textteile selbst hinein gehen – eine Täuschungsabsicht dokumentieren?

Das alles ist nicht einmal logisch konsistent und in der Beurteilung von Schweregrad, Täuschungsabsicht und der Forderung zum Entzug des Doktortitels willkürlich, ja durch die Strategie der verzögerten Veröffentlichung hoch manipulativ.

Ich gehe bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass Herr Kamenz sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, den eigenen Text auf Fehler, Inkonsistenzen, logischen Unsinn und vor allem hinsichtlich einer Gesamtbeurteilung ernsthaft, sorgfältig, methodisch sauber durchgesehen hat. Wäre dies so – wofür die angegebenen Stichproben Hinweise bieten – muss man das für unwissenschaftlich erklären.

(1) Das Prüfdokument in der Dissertation von Steinmeier auf Seite 45 (Fußnote 128) ist nach meiner Prüfung der Originalquellen richtig zitiert. Die Originalquelle ist nicht – wie Kamenz angibt – die von ihm genannte Quelle.

(2) Das, was Uwe Kamenz als Originalquelle der Diss-Textstelle auf Seite 65 gegenübergestellt hat, ist ein verwirrendes Textkonvolut, das auch noch offenkundig ohne angemessene Belegzitate bleibt. Das, was an Quellen angegeben wird, ist von mir geprüft dort nicht zu finden, weder bei der angegebenen Quelle „Busch-Geertsema“ noch bei „Ude“. Die Zitate der angeblichen Originalquellen (nach Kamenz) sind falsch.

(3) Die zweite inkriminierte Textstelle auf Seite 65 ist ebenfalls von Steinmeier offenkundig angemessen zitiert worden – die angebliche Originalquelle dagegen nicht. Das Belegzitat, das von Kamenz zitiert wird, ist falsch.

(4) Die angebliche Originalquelle für die besonders inkriminierte Textstelle auf Seite 67 der Dissertation Steinmeier ist ebenfalls falsch zitiert. Das gleiche gilt für eine Textstelle der Dissertation auf der gleichen Seite, die ebenfalls als Plagiat (zu „44 % wahrscheinlich“) inkriminiert worden ist.

(5) Auch die für die Textstelle Seite 122 der Dissertation angeführte angebliche Originalquelle von Kamenz ist offensichtlich falsch: In Achterbach, N: Öffentliche Ordnung findet sich nichts von dem, was angeblich als Originalquelle von Kamenz identifiziert ist.

(Herr Kamenz und sein Computer haben es geschafft, 66 Mal für 27 Seiten der Dissertation von Steinmeier eine einzige Seite einer Quelle als richtig gegenüber angeblichen Plagiaten und Falschzitierungen zu behaupten: Es ist die angebliche die folgende Quelle: Achterberg, N.: Öffentliche Ordnung … 1973, S. 18. In allen von mir geprüften ist die von Kamenz behauptete angeblich richtige Quellenzuordnung falsch.)

(6) Das gleiche gilt für die angebliche Originalquelle einer inkriminierten Textstelle auf Seite 127 bzw. 128. Auch hier sind die angeblichen Originalquellen falsch zitiert.

(7) Ebenso ist die angebliche Originalquelle für die Textstelle Seite 136 der Dissertation falsch zitiert.

(8) Auf Seite 275 unter Quellenverzeichnis heißt es unter der Fußnote 57 Wulf, Christoph: Vom Menschen. In. Handbuch Historische Anthropologie. 1943. Dies ist nicht nur ein falsches Zitat meines langjährigen Kollegen an der Freien Universität Berlin. Es enthält in dieser einen Zeile vier Fehler: richtig muss es heißen: Wulf, Christoph (Hrsg): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. 1997. (Christoph Wulf hat 1943 noch nicht gelebt oder war ein Kleinkind)

Auf der gleichen Seite 275 unter Quellenverzeichnis 51 heißt es: Sozialstaatsklauseln und juristische Methode, 1975 – es muss offensichtlich heißen: Noack, Harald: Sozialstaatsklauseln und juristische Methode. Problem einer Interpretation des Art. 20 Abs I und Art. 28 Abs I des Grundgesetzes. Baden-Baden, 1975.

(9) Auf Seite 149 diskutiert Steinmeier in einer klugen Auseinandersetzung mit einem, wenn nicht dem zentralen Pluralismustheoretiker der Politikwissenschaft, Ernst Fraenkel – einem der Mitgründer des Otto-Suhr-Instituts an der Freien Universität Berlin – die Notwendigkeit regulativer Ideen als konsensfördernde Grundlagen der Demokratie, paraphrasiert hierzu Kernelemente von Ernst Fraenkels Deutschland und die westlichen Demokratien und schreibt unter anderem: „Die pluralistische Theorie des Gemeinwohls bestreitet demgemäß überwiegend nicht, dass es Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, über die ein Consensus Omnium besteht, sondern hält den Staat im Gegenteil überhaupt nur für lebensfähig, wenn über ein Minimum fundamentaler, darüber hinaus möglicherweise sogar über einige detaillierte Probleme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Übereinstimmung herrscht.“ – Kamenz attestiert ihm hierzu ohne Beleg eine 24-prozentige Einzelplagiatswahrscheinlichkeit .

(10) Der besonders absurde Fall: „Um mit Ernst Bloch zu sprechen“ – Das Plagiat nach Kamenz und die Kakophonie einer außer Kontrolle gelassenen „Software“ des Uwe Kamenz oder Warum Steinmeier von Helmut Kohl abgeschrieben hat.

Auf der gleichen Seite 149 findet sich die Gegenüberstellung der Dissertation und der angeblichen Originalquelle nach Kamenz: In der Dissertation wird im Kontext an einer Kritik an der traditionellen konservativen Ordnung gegen die Beweglichkeit demokratischer Verfahren die reine Verteidigung alter Ordnung beschrieben und mit einem Zitat von Ernst Bloch illustriert: Es heißt wörtlich bei Steinmeier (S.149):

Gerade diese Gleichsetzung (von Ordnung und Geordnetem, d.V.) ist aber im demokratischen Staat zu verhindern, soll – um mit Ernst Bloch zu sprechen – die Gewesenheit nicht zum Wesen des darob in der Gewesenheit erstarrenden neuzeitlichen Staates werden.“ (Steinmeier).

Dem wird als „Originalquelle“ (!) von Kamenz gegenübergehalten: „In einer spannungsreichen Epoche gewann die Bundesrepublik innere Stabilität und das Vertrauen ihrer Nachbarn. Die Deutschen lernten wieder um mit Ernst Bloch zu sprechen die Würde des aufrechten Gangs. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, auf diesem Erbe dürfen wir aufbauen …“ – als Belegzitat dieser angeblichen Originalquelle findet sich unten auf der Seite: „22 Helmut Kohls Regierungserklärung, 1 … 1982, S“ – soweit das Zitat von Kamenz.

Hier hat jemand sich offenkundig auf die Automatik einer ungezügelten Computerzitation verlassen, ohne sie je gegenzulesen bzw. angemessen zu würdigen. Das vergleichende Dritte ist: um mit Ernst Bloch zu sprechen. Und tatsächlich: Helmut Kohls Regierungserklärung liegt acht Jahre vor dem von Steinmeier zitierten Zitat! Nach dieser grotesken Logik des Herrn Kamenz hat Steinmeier von Helmut Kohl abgeschrieben und zwar die Worte um mit Ernst Bloch zu sprechen.

Ich kann meine Vergleichsbeschreibung von Prüfdokument und angeblicher Originalquelle hier abbrechen. Der Leser mag sich ein eigenes Urteil anhand des folgenden screenshots aus dem mir vom Büro Steinmeier zugemailten Prüfbericht des Herrn Kamenz bilden. Die rechtsunten angegebenen Quellenzitate von Achterberg, die ich kontrolliert habe, enthalten nichts von dem, was angeblich als „Originalquelle“ nach Kamenz zitiert wird. Und: was heißt 24 % Einzelplagiatswahrscheinlichkeit ?– es wird nirgendwo erklärt. Auch der Buchstabensalat in der zehnt- und neuntletzten Zeile der rechten Seite wird nicht erklärt oder richtiggestellt. Software-Kakophonie. Unverantwortlich.

Deshalb: Herr Kamenz wird seinen Bericht alsbald zurückziehen müssen, wenn er sich nicht den Vorwurf eines Rufmords einhandeln will, der auf einer wüsten, unkontrollierten, jede Sorgfaltspflicht vermissenden, von seinem Computerprogramm hergestellten Text-Collage basiert. Meint der Herr Kamenz oder der Computer, dass „um mit Ernst Bloch zu sprechen“ nicht ohne darauf zu verweisen, dass auch Helmut Kohl Bloch zitiert hat, zitiert werden darf? Meint der Computer/Kamenz, dass Fraenkel von Fraenkel zitiert hat – und deswegen Steinmeier nicht Fraenkels Deutschland und die westlichen Demokratien zitieren dürfe? Die Expertin Weber-Wulff hat – sinngemäß – recht: Ohne einen eigenen Blick auf das, was der Computer so findet, kann man nicht Wissenschaft und schon gar nicht eine These aufstellen, die zu einem Rufmordversuch führt.

Seite 78 Prüfbericht

4. Gesamtbewertung: Versuchter Rufmord statt wissenschaftlicher Prüfung

a) Der Prüfbericht ist ohne Sorgfalt und unwissenschaftlich

Der „Prüfbericht“ des Herrn Kamenz zeigt einen Autor, der über weite Strecken beliebig angebliche Originalbelege zu finden meint und seiner Belegzitatpflicht nicht nachkommt. Er ist weder in der Lage, die einzelnen Zitate der angeblichen Belege anzugeben noch seine Formel zu erklären noch erst recht die Täuschungs- und 63-%-These auch nur mit einer Halbzeile zu begründen. Es wimmelt von Fehlern in der Zeichensetzung, Syntax und nicht zu Ende geführten Sätzen. Er ist seiner selbst gestellten Aufgabe nicht nur nicht gerecht geworden, sondern hat sie schlampig, ja mit moralisch aufgeladenen, wilden Vorwürfen selbst zerstört. Der Autor lässt jede Sorgfaltspflicht vermissen. Es ist anzunehmen, dass der Autor Kamenz nicht einmal den Vergleich von Prüfdokument und Originalquellen selbst zur Kenntnis genommen hat, sondern seinem Automaten überlassen hat – und wenn er die Quellen verglichen haben sollte, sie offenkundig nicht verstanden hat.

Ich komme daher auf der Basis meiner Einschätzung des Dokuments von Herrn Kamenz zu dem Schluss, dass seine Methode nicht stichhaltig ist, verwirrend wirkt, die statistischen Berechnungen nicht ausgewiesen sind und das Dokument nichts mehr als ein Pamphlet darstellt, das wissenschaftlichen Kriterien keineswegs genügt, sondern vielmehr als methodisch undurchsichtig, von keiner Sorgfalt geprägt erscheint und alsbald zurückgezogen werden sollte. Offenkundig ist der Fachhochschulprofessor Kamenz für Internetmarketing mit der Beurteilung einer Dissertation aus dem Gebiet der Rechts- und Politikwissenschaft überfordert.

Nebenbei bemerkt: Es macht sich nicht gut, wenn in Focus online berichtet wird, dass Herr Kamenz ein münsterscher Professor ist. Er hat in Münster ein Büro für Internetmarketing, seine Professur allerdings in Dortmund. Er hat dieses Pamphlet auch nicht in seiner Eigenschaft als Fachhochschulprofessor angefertigt, sondern privat. Er hat für den „Prüfbericht“ Steinmeier Geld aus der Quelle des Focus erhalten, wie wir hören. Herr Kamenz lässt selbst ein Minimum an wissenschaftlicher Sorgfalt vermissen. Es ist ein Unding, eine These zu lancieren, ohne gleichzeitig sie wenigstens exemplarisch zu belegen. Das hat den Charakter einer Kampagne, aber nicht den einer wissenschaftlich überprüfbaren Darlegung einer wissenschaftlichen These, die den Anspruch hat, die wissenschaftliche Arbeit von Herrn Steinmeier als Plagiat abzuwerten und den Doktortitel für aberkennenswert zu erachten. Einen wissenschaftlichen Beleg für diese weitreichende These ist mit

dem 278 starken Text des Uwe Kamenz nicht gegeben.1 Die Universität Gießen tut gut daran, anders vorzugehen und es scheint, dass dies auch sorgfältig geschieht.

b) Ethisches und journalistisches Versagen der Focus-Redaktion und der bereitwillig folgenden Medien

Nicht nur Herrn Kamenz, auch der Redaktion des Focus mangelte es an Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Einen solchen Vorwurf zu lancieren, ohne sich offenkundig ein zureichendes Bild zu machen, ist milde gesagt fahrlässig. Hätte die Redaktion besser recherchiert bzw selbst einen Blick in die Originalquellen unternommen, wäre es nicht zu einer Veröffentlichung gekommen. Hat sie dies getan und den Text dennoch veröffentlicht, so wäre dies für ein Medium wie Focus eine schwerwiegende Verletzung ethischer Minima der Publizistik. In der Tat: dieser Text dient offenbar dazu, einen Rufmord zu versuchen. Es ist zu hoffen, dass die Universität Gießen nicht allzu lange Zeit braucht, um seriös mögliche Plagiatselemente in der Dissertation von Herrn Steinmeier zu entdecken und zu würdigen. Im Kamenz-Text werden sie nicht entdeckt, im Gegenteil.

Nach meiner bisherigen Lektüre ist Frank-Walter Steinmeier sehr sorgfältig vorgegangen. Er hat die Zitate jeweils unmittelbar vor oder nach Ende eines Zitats aus der rechts- bzw. sozialwissenschaftlichen Literatur belegt. Er hat sie oft nicht mit Anführungsstrichen versehen; dies ist eine in der Rechtswissenschaft verbreitete Praxis gewesen – und zum Teil noch. Ihm dies vorzuwerfen, ist daher unangemessen. Der Sinn, durch Zitate die Urheberschaft nachprüfbar und transparent zu machen, ist mit einem solchen Verfahren voll gewahrt. Es gibt in der Tat für diesen Kernzweck des Zitierens unterschiedliche Formen und Kulturen. Sie vereinheitlichen zu wollen, ist nicht möglich und nicht sinnvoll – jedenfalls nicht, solange das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre gilt. Vollends absurd ist der schwerwiegende Vorwurf der Täuschungsabsicht. Ich empfehle, gegen solche ehrverletzenden Unterstellungen bzw. Denunziationen auch strafrechtlich vorzugehen. Die Wissenschaft lebt von einer Kultur der Sorgfalt und Vielfalt – und sollte sich selbstbewußt gegen einen Geist der beliebigen Denunziationen und des Duckmäusertums (in Teilen der Medien, auch in Teilen der Wissenschaft) entschiedener als bisher zur Wehr setzen – gerade nach dem Fall Guttenberg.

Persönliche Anmerkung zur Dissertation von Herrn Dr. Steinmeier

Ich habe diese Dissertation vor 24 Stunden in die Hände bekommen und habe große Teile mit größtem Gewinn gelesen. Bürger ohne Obdach – Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum. Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit ist eine rechts- wie sozial- und politikwissenschaftliche, theoretisch wie empirisch, sorgfältige und differenzierte, kluge Dissertation in der Tradition einer auf den Sozialstaat ausgerichteten rechtsstaatlichen Demokratie. Für den Autor ist das Grundrecht auf Wohnraum keine Leerformel, sondern ein soziales Grundrecht, das es umzusetzen gilt. Vor allem ist es ein Plädoyer von bedrückender Aktualität – und Verpflichtung auch für die Politik.

 

1Meine Bemühungen, den so genannten Plagiatsprüfbericht eines Instituts für internet Marketing (von Uwe Kamenz) erhalten zu können, erwiesen sich als schwierig. Obwohl mein Büro um die Zusendung dieses Prüfberichts gebeten hatte, war weder dem Büro noch mir selbst bis zum 2. Oktober eine Nachricht darüber zugegangen, ob man bereit sei, diesen Bericht zur Verfügung zu stellen. (Ich bin inzwischen informiert worden, dass der so genannte Prüfbericht von Herrn Kamenz wohl seit dem 1. Oktober 2013 online gestellt ist.) Nur weil ich parallel das Büro von Dr. Frank-Walter Steinmeier gebeten habe, mir den Prüfbericht per Mail weiterzuleiten, wurde er mir am gleichen Dienstag zur Verfügung gestellt. Am Diensttagabend erhielt ich ein Original der Dissertation.

2Es gibt allerdings unter „Glossar“ auf Seite 276 einen gradezu banalen Hinweis auf den Schweregrad des von Herrn Kamenz erhobenen Vorwurfs. Ich zitiere wörtlich: „Entsprechend der Gesamt wahrscheinlichkeit wird eine Rating der Schwere durch die Ampelfarbe berechnet: grün (bis 19 %) = wenige Indizien unterhalb der Bagatellschwelle, gelb (20-49 % ) – deutliche Indizien enthalten, die eine Plagiatsbegutachtung durch den Prüfer notwendig machen; rot (ab 50 %) = Plagiate liegen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vor, die eine Täuschungsabsicht dokumentieren. Bei publizierten Dissertationen sollte ein offizielles Verfahren zur Prüfung und/oder zum Entzug des Doktortitels eröffnet werden.“ Abgesehen von den syntaktischen Schwächen dieser Sätze geht es hier eingestandenerweise offenkundig nur um Wahrscheinlichkeiten. Alle sog. Prüfberichte bis 19 % sind Indizien unterhalb der Bagatellschwelle – sie machen aber einen beträchtlichen Teil der quantitativen Plagiatsvorwürfe im Fall der Dissertation Steinmeiers aus. Ohne sie käme man nicht auf 500!. Und: wie will man – ohne in den Sachverhalt der zitierten Textteile selbst hinein gehen – eine Täuschungsabsicht dokumentieren? Das alles ist nicht einmal logisch konsistent und in der Beurteilung von Schweregrad, Täuschungsabsicht und der Forderung zum Entzug des Doktortitels willkürlich, ja durch die Strategie der verzögerten Veröffentlichung hoch manipulativ.Ich gehe bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass Herr Kamenz sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, den eigenen Text auf Fehler, Inkonsistenzen, logischen Unsinn und vor allem hinsichtlich einer Gesamtbeurteilung ernsthaft, sorgfältig, methodisch sauber durchgesehen hat. Wäre dies so – wofür die angegebenen Stichproben Hinweise bieten – muss man das für unwissenschaftlich erklären.

3Irgendwie setze sie sich aus den 500 angeblich inkriminierten so genannten Plagiatswahrscheinlichkeiten zusammen, die unterschiedlich prozentual definiert seien und man komme dann in einer Mischung von Quantität und Qualität in einer komplexen Berechnungsweise auf der Basis einer geheim gehaltenen Formel zu jenen 63 % im Fall Steinmeier, zu (wohl?) 78 % im Fall Schavan und zu 99 % im Fall Guttenberg. (Ich habe diese Dissertationen gelesen.) Allein diese Kategorisierung zeigt das Problem. Die genannten Arbeiten sind in keiner Weise auf einer solchen quantitativen Linie vergleichbar, zumal die Entscheidung für eine solche prozentuale Bewertung bewußt im Dunkeln gehalten werden.

4Laut SZ vom 29.9. kritisiert die Plagiatsexpertin Weber-Wulff ausdrücklich die Machart des Verfahrens Kamenz:4 Die Berliner Professorin Debora Weber-Wulff, die sich seit Jahren mit Plagiatssoftware befasst und auch bei der Internet-Plattform „VroniPlag“ mitgemacht hat, hält es für „unverantwortlich“ von Kamenz, einen aus ihrer Sicht unsauberen Bericht veröffentlicht zu haben. Für Weber-Wulff ist schleierhaft, wie der Wert von insgesamt 63 Prozent zustande kommen soll. Im Bericht gebe es weitere Ungereimtheiten, beispielsweise Stellen, mit einer „Einzelplagiatswahrscheinlichkeit“ von null Prozent, die dennoch ausgewiesen seien. Der Prüfbericht sei automatisch von einer Software erstellt worden, aber: „Entscheiden kann nur ein Mensch, die Maschine kann nur Hinweise liefern.“

Laut spiegel-online vom 30.9. Anders als beispielsweise das VroniPlag Wiki nutzt Kamenz eine Software, die Dissertationen für ihn analysiert. Sie arbeitetmit einem Ampelsystem: Eine grüne Ampel bedeutet, die Plagiatsindizien liegen unterhalb der Bagatellschwelle, gelb spricht für deutliche Indizien, rot deutet auf eine Täuschungsabsicht hin. Auf der zweiten Seite von Steinmeiers Prüfberichts steht, die Gesamtplagiatswahrscheinlichkeit liege bei 63 Prozent. Daneben ein roter Punkt. 279 Seiten stark ist Kamenz Bericht, er ist deshalb so umfangreich, weil die Software jede Kleinigkeit auflistet. So wertete der Berliner Jura-Professor Gerhard Dannemann im „Focus“ einen Großteil der von Kamenz angeführten Indizien als „lässliche Sünden“ oder gar als unproblematisch. Nur drei Passagen sah er nach Lektüre des Zwischenberichts als kritisch an und sagte dazu: „Wenn der Prüfungsbericht hier die Quellen richtig wiedergibt, wären das Verstöße gegen die Zitierregeln, die den Bereich des Tolerierbaren klar überschreiten würden.“

7 Kommentare

  1. […] Plagiats- und Täuschungsvorwurf gegen Steinmeier ohne seriösen Beleg. […]

  2. mark blueeyes · · Antworten

    Ich hoffe Herr Funke gerät in die Schusslinie wenn Steinmeir fällt und wird seiner Anstellungen und Posten/Ämter ebenfalls verlustig.

  3. […] Plagiats- und Täuschungsvorwurf gegen Steinmeier ohne seriösen Beleg: Kamenz sollte “Prüfbericht” schnellstens zurückziehen … HajoFunke […]

  4. […] der der Politikwissenschaftler Professor Dr. Hajo Funke von der Freien Universität Berlin kritisiert den Plagiatsjäger. Er erklärte nach einer […]

  5. Danke für diese Ausführliche Ausführung. Habe sie mit großem Gewinn gelesen.

  6. Hans Rupert · · Antworten

    Herr Professor Funke, mich würde Ihre Einschätzung zu der doch seriöseren Dokumentation bei Vroniplag interessieren:

    http://de.vroniplag.wikia.com/wiki/Fws

    Auch auf den Seiten 65ff, die Sie oben ansprechen, wurde großflächig plagiiert. Die Arbeit von Herrn Steinmeier folgt in signifikaten Teilen leider nicht wissenschaftlichen Standards.

    Aus meiner Sicht ein Abgrund an Unehrlichkeit und peinlich für die deutsche Wissenschaft.

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