Funke/Bucklitsch|„Anschlag mit Ansage – Das planvolle Staatsversagen im Fall Anis Amri“ (WamS vom 17. 12. 17)


Anschlag mit Ansage – Das planvolle Staatsversagen im Fall Anis Amri“ (WamS vom 17. 12. 17)

Der Fall ist weniger als ein Jahr nach dem Verbrechen vom Breitscheidplatz im Kern aufgeklärt: Das Bundesamt für Verfassungsschutz wusste, verbarg alles und vor allem: lies den Attentäter laufen.

Seit heute, dem 17. Dezember 2017 ist ausweislich der Berichte in der Welt am Sonntag und der Bild am Sonntag umfänglich belegt, dass wir es im Fall des bisher in Deutschland schlimmsten IS-Attentats vom 19.12.2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz in Charlottenburg um ein planvolles Staatsversagen handelt.

WamS: „Der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri ist von Polizei und Nachrichtendiensten sehr viel früher und sehr viel intensiver observiert, beschattet und abgehört worden, als bisher von Behörden und Bundesregierung zugegeben. Dies geht aus Tausenden Akten, dutzenden V-Mann-Berichten und den Protokollen von Telefon- und Internetüberwachungen hervor, die der WELT AM SONNTAG exklusiv vorliegen. Spätestens seit November 2015 ließ die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe den Tunesier vom Bundeskriminalamt (BKA) und vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen durch einen V-Mann der Polizei, der sich „Murat“ nannte und als „VP01“ in den Akten auftaucht, gezielt überwachen. Die Maßnahme war Teil der verdeckten Ermittlungen gegen die mutmaßliche IS-Terrorzelle des Hildesheimer Hasspredigers Abdullah Abdullah, der unter seinem Decknamen „Abu Walaa“ bekannt ist. – Bereits am 24. November 2015, mehr als ein Jahr vor dem Anschlag auf den Breitscheidplatz, meldete „VP01“ konkrete Terrorpläne Amris an das LKA Düsseldorf. Diese wurden – wie alle weiteren Erkenntnisse – von dort an BKA, Generalbundesanwalt und das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergereicht. Spätestens seit dem 3. Dezember 2015 wurden deshalb die häufig wechselnden Mobiltelefone Amris abgehört und seine Internetverbindungen überwacht. Bereits am 14. Dezember 2015 lud Anis Amri mit seinem rund um die Uhr überwachten Smartphone detaillierte Anleitungen zum Mischen von Sprengstoff sowie zum Bau von Bomben und Handgranaten herunter. Spätestens ab dem 2. Februar 2016 telefonierte Amri auf diesem abgehörten Handy mit zwei IS-Kadern der mittleren Führungsebene in Libyen und bot sich als Selbstmordattentäter für einen Anschlag in Deutschland an. Mithilfe des Polizeispitzels „VP01“ gelang es den Staatsschützern noch im selben Monat, in die zusätzliche, verschlüsselte Chat-Kommunikation Amris mit den IS-Kadern in den Messenger-Diensten Telegram und WhatsApp einzudringen. Während die Bundesregierung bis heute behauptet, BND und BfV hätten im Fall Amri keine eigene operative Rolle gehabt, liegen der WELT AM SONNTAG Behörden-Mails und Akten vor, die eine stärkere Rolle der deutschen Nachrichtendienste belegen. So verfasste das BfV bereits im Januar 2016 eine zweiseitige Analyse zu Anis Amri, die von BfV-Chef Maaßen persönlich unterschrieben wurde. Über 12.000 Datensätze, darunter die Kommunikation mit Amris IS-Kontaktleuten in Libyen, die am 18. Februar 2016 in Amris Smartphone sichergestellt worden waren, wurden vom BKA an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) weitergeleitet. Dies belegt der Auswertungsbericht des BKA. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte für Anis Amri sogar eine eigene Sachbearbeiterin eingesetzt. Diese Agentin F. (ihr Name ist der WELT AM SONNTAG bekannt) ist bei der Antiterror-Abteilung des BfV in Berlin eingesetzt. Sie befindet sich auf demselben Gelände wie die für Amri ebenfalls zuständige Staatsschutzabteilung 33 des BKA.“

Verantwortlich: Hans-Georg Maaßen (BFV Chef). Lothar de Maizière. Befreundete Dienste

Nach diesem „planvollen Staatsversagen“ ist überfällig, was am Ende des Berichts des zweiten Untersuchungsausschusses in einem Minderheiten-Votum verlangt wird: die alsbaldige, parlamentarisch entschiedene Durchsetzung einer unabhängigen Kontrolle der Geheimdienste, die anders als bisherige Kontrollformen wie das parlamentarische Kontrollgremium umfassend und jederzeit ein Kontrollrecht ausübt. Wie etwa nach dem Vorbild der US-amerikanischen Institution des Sonderermittlers. Nur eine solche unabhängige, demokratisch legitimierte Kontrolle kann verhindern, dass es in das Belieben und die Willkür des Bundesamts gelegt ist, ob und wie ermittelt wird, ob und wie die zuständigen Sicherheitsinstitutionen wie die Polizei überhaupt von einer Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung erfahren – oder nicht: Wie im Fall des NSU. Wie im Fall der Mittäter im Mordfall Michael Buback. Wie im Fall des Oktoberfestattentats. Es ist Zeit.

Das nötige finden Sie dazu in dem an diesem Wochenende ausgelieferten Band zur Sache: Hajo Funke: „Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss«

Ein Gefühl der Bitterkeit

Es ist nur noch bitter, heute in der Welt am Sonntag ebenso wie in der Bild am Sonntag bestätigt zu finden, was wir schon Anfang des Jahres unmittelbar nach dem verheerenden Attentat auf dem Breitscheidplatz unter anderem auf dieser Website dargelegt, deswegen – vergeblich – auf Aufklärung durch die Bundesbehörden gedrungen und – informiert durch die NSU-Aufklärung über die Strukturen des Schweigens – auf die zentrale Bedeutung der Bundesbehörden hingewiesen haben. (Vgl. unsere Website Januar 2017). Und es ist schon verwegen, ja eigentümlich grotesk und auf das schiere Vergessen der Öffentlichkeit erpicht, wenn der zuständige Innenminister in einer dieser Zeitungen breit erklärt, wie erfolgreich die Bekämpfung des IS sei.

Und da Hans-Georg Maaßen ebenso wie Bundesinnenminister Lothar de Maizière und der Generalbundesanwalt im Innenausschuss des Bundestags bzw. in der Öffentlichkeit dazu geschwiegen, uns in die Irre geführt haben und stattdessen die jeweilige Landespolizei als alleinverantwortlich beschrieben haben, ist deren Rücktritt geboten.

Hajo Funke und Lutz Bucklitsch

Berlin, den 17.12.2017

 

 

BILD, 17.12.2017

MEHR ALS EIN JAHR VOR DEM WEIHNACHTSMARKT-ANSCHLAG IN BERLIN: Terrorist Amri wurde schon 2015 überwacht

Warum konnte der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri so lange unbehelligt seinen Terrorakt planen?

Aus einem Zeitungsbericht geht jetzt hervor, dass Amri viel früher und intensiver observiert und abgehört wurde als bisher bekannt. Bereits Ende 2015 – mehr als ein Jahr vor der Attacke am 19. Dezember 2016 mit zwölf Toten – begann demnach die Überwachung.

Das berichtet die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf Tausende Akten, Dutzende V-Mann-Berichte und Protokolle von Telefon- und Internetüberwachungen, die der Zeitung nach eigenen Angaben exklusiv vorliegen.

Unglaublich, was bisher nur vermutet wurde, wird jetzt durch die vorhandenen Akten bestätigt:

„Spätestens seit November 2015 ließ die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe den Tunesier vom Bundeskriminalamt (BKA) und vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen durch einen V-Mann der Polizei gezielt überwachen.

Die Maßnahme sei Teil der verdeckten Ermittlungen gegen die mutmaßliche ISIS-Zelle des Hildesheimer „Hasspredigers“ Abu Walaa gewesen.“ (BILD,17.12.2017)

Was bisher, wie in anderen Fällen vermutet wurde, wird durch die Dokumente bestätigt:

„► Die Erkenntnisse wurden mit allen beteiligten Behörden geteilt. Das BKA, der Generalbundesanwalt und das Bundesamt für Verfassungsschutz waren also informiert!“ BILD (17.12.2017)

Und auch die sonstigen Fakten belegen die aktive „Unterstützung“ deutscher Sicherheitskräfte,wie dem Bundesamt für Verfassungsschutz, in Sachen Anis Amri:

Spätestens seit dem 3. Dezember 2015 seien deshalb die häufig wechselnden Mobiltelefone Amris abgehört und seine Internetverbindungen überwacht worden.

Die gesamte Kommunikation des späteren Attentäters konnte nachverfolgt werden:

► Er suchte via Smartphone Anleitungen zum Mischen von Sprengstoff und zum Bau von Bomben.

► Außerdem begann er wohl im Februar 2016 damit, zwei Kader der Dschihadisten-Miliz Islamischer Staat in Libyen zu kontaktieren. In Telefonaten bot er sich als Selbstmordattentäter für einen Anschlag in Deutschland an.

► Den Behörden gelang es sogar unter Mithilfe ihres V-Manns, in die zusätzliche, verschlüsselte Chat-Kommunikation Amris mit den Kontaktmännern in Libyen einzudringen.“ BILD, 17.12.2017

Und wieder zeigt sich, wie das BfV, vor allem sein Präsident es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, denn

„Terrorkontakte seit 2011 bekannt

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte offenbar für Amri eine eigene Sachbearbeiterin eingesetzt. Es muss klar gewesen sein, welche Gefahr von ihm ausgeht.“  BILD, 17.12.2017

Wie auch sonst bereits in anderen Fällen – RAF, Schmücker-Mord, NSU etc – versuchen die Verantwortlichen, nicht nur in den Sicherheitsbehörden, sondern auch im Innenministerium, alles zu vertuschen, jede Verbindung, jedes Wissen zu bestreiten.

Hier werden wieder einmal, in diesem Fall 12 getötete Menschen, als Kollateralschaden offen in Kauf genommen.

Schon im Januar 2017 haben wir, Hajo Funke/Lutz Bucklitsch, auf offensichtliche Widersprüche der Sicherheitsbehörden und anderer aufmerksam gemacht.

Siehe:

FUNKE/BUCKLITSCH| WIESO SOLLTE ANIS AMRI AUF FREIEM FUSS BLEIBEN ?

von Hajo Funke und Lutz Bucklitsch1

Wollte man Anis Amri auf freiem Fuß lassen? Das war laut Merkur vom 13. Januar, eine zentrale Frage, in der ZDF-Sendung Maybritt Illner „Terror mit Ansage“. Während der Justizminister Maas, der einen Bericht ankündigt, sich aber ansonsten auffällig bedeckt hielt, formulierte der Sicherheitsexperte des ZDF, Thevessen, die Vermutung, dass man durch einen freien Amri eher an ein Netzwerk komme. Stefan Aust aber hielt sich erneut2 – wie schon Wochen zuvor, in einem großen Welt-Artikel – zurück(Merkur) und erklärte alles nur für einen außerordentlich merkwürdigen Vorgang.

Eine vollständige Aufklärung ist unvermeidbar

Dieses Herumdrucksen, um die zentralen Fragen, ist vier Wochen nach dem Attentat und all dem, was wir wissen, ein Rückschritt in der Aufklärung. Wir haben ja schon gesehen, dass der auf Landesebene zuständige Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Jäger, nicht mehr erklären konnte, warum er hinsichtlich des späteren Attentäters, nicht das angemessene getan hat, sondern ihn laufen ließ. Das Innenministerium hatte selbst interveniert, um Amri aus der Abschiebehaft laufen zu lassen. Eigentlich wären dafür die Ausländerbehörde in NRW, die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft zuständig gewesen. Auch der Landesinnenminister hatte offenkundig von anderswo Druck erhalten. Warum er sich das noch bieten lässt, ist schwer verständlich. Einen Gutachter einzusetzen, um aufzuklären, ist ein Retten über die Zeit. Schon jetzt ist, aufgrund des Versagens, im Fall Amri das Sicherheitsgefühl, der bundesdeutschen Bevölkerung, im Absturz. Wir können nicht mit der Aufklärung warten, bis der nächste Fall Amri eingetreten ist.

Wenn nun auch der angekündigte Bericht des Justizminister Maas nicht klärt, was in den letzten – vor allem aber der letzten – Sitzung des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ) von wem auch immer, zu dem späteren Attentäter gesagt und empfohlen worden ist, ist dieser Bericht unvollständig und ein weiterer Versuch der Vertuschung. Auch wenn es schwer fällt, diesen Teil des Berichts, wie sonst durch die Verfassungsschützer üblich, nicht zu schwärzen – müssen wir erfahren, was das dem Bundesinnenministerium untergeordnete Bundesamt für Verfassungsschutz, an Argumenten hatte, ihn noch kurz vor dem Attentat, in der letzten Sitzung des Terrorabwehrzentrums, Anfang Dezember 2016, nicht festzusetzen, sondern weiterhin laufen zu lassen, obwohl es zahlreiche Möglichkeiten einer Festnahme Amris gab. Zuletzt in Berlin, vor oder in der Fussileh-Moschee in Moabit, noch am Tattag, unmittelbar vor dem Anschlag – auf der Basis, eines vom Verfassungsschutz aufgenommenen Videos aus dem Aufenthaltsraum der Polizeidirektion III Berlin.

Die zentrale Verantwortung des Bundesamts für Verfassungsschutz

Denn immerhin ist das Bundesamt, innerhalb des Terrorabwehrzentrums, eine, wenn nicht die zentrale Institution für diese Frage. Im Terzett der drei zentralen Sicherheitsinstitutionen in dieser Frage – dem Bundesamt für Verfassungsschutz, der Generalbundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt – hat wenn das Bundesamt es will, die Prärogative. Diese ist durch verschiedene Verordnungen und Zusammenarbeitsrichtlinien de facto seit nun über 50 Jahren der Fall3: Das Bundesamt kann, wenn es will, Ermittlungen etwa des Bundeskriminalamts anhalten. Es bleibt die alles entscheidende Frage, die zur Schwachstellenanalyse gehört und die sowohl vom Bundesinnenminister, wie vom nordrhein-westfälischen Innenminister, systematisch ausgeblendet wird, wer im gemeinsam Terrorabwehrzentrum dafür verantwortlich war, dass man ihn laufen ließ (es war eine falsche Behauptung, dass er nicht mehr auf dem Schirm sei). Von der Kompetenzzuordnung kommt hierfür nur das, der Fachaufsicht des Innenministeriums, unterstellte Bundesamt für Verfassungsschutz infrage, dass eine V-Person im Umfeld von dem Attentäter hielt.

Während unserer mehrjährigen Kommunikation und Kooperation in Konferenzen, Hintergrundgesprächen und Tagungen mit Institutionen des Bundeskriminalamts, in Fragen der NSU-Aufklärung seit 2011, stach ins Auge, dass wenn es in den Sinn des Bundesamts für Verfassungsschutz kam, dies jeweils dominierte und die Dinge in seine Hand nahm.

Das Bundeskriminalamt ist de facto, auch wenn es anders wollen würde, von den Vorgaben des BfV im Problemfall abhängig, sicherlich auch in diesem Fall. Das Bundesamt hatte immerhin einen V-Mann im Umfeld von Amri. Sie hatten und haben die Möglichkeit, parallel zu anderen Institutionen, zu observieren, auch ohne richterliche Anordnung. Sie waren an der Erfassung und Aushebung des mit Amri befreundeten Predigers, Abu Walaa, in Hildesheim, wenige Wochen zuvor, an zentraler Stelle beteiligt. Sie waren auch über den Attentäter bestens informiert. Niemand käme auf die Idee und ist es bisher auch nicht gekommen, dies infrage zu stellen.

Das Bundesamt, als zentrale Institution, hat es versäumt, das nötige zu tun, um den Attentäter festzusetzen oder anderswie unter Kontrolle zu bekommen. Es hatte, wie in den Fällen des NSU, womöglich auch ein Interesse, den Attentäter weiterhin in Freiheit zu halten. Entweder, um an mehr Informationen der potentiellen Terrornetzwerke heranzukommen oder aber ihn in der Vorbereitung des Terrorakts, beobachten zu können. In beiden Fällen ist dies ein erneutes, verantwortungsloses „Versagen“ dieser zentralen Institution, dem Bundesamt für Verfassungsschutz – mit Ansage, Absicht – und zwölf Toten auf dem Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg.

Endlich Kontrolle und Einschränkung der Allkompetenz der Institution im Ausnahmezustand.4

Daraus ergibt sich, endlich das Bundesamt vollständig zu kontrollieren und klare Vorgaben zur Informationsweitergabe zu erteilen, damit das Bundeskriminalamt überhaupt unabhängig arbeiten kann und seine Aufgaben damit erst erfüllen kann, nämlich die Gefahrenabwehr und Aufklärung von Straftaten. Damit würden, nicht nur dieses Attentat, auch die Verbrechen des NSU und andere erst aufklärbar sein.

Gänzlich absurd ist die Forderung des Bundesinnenministers, ohne Schwachstellenanalyse, genau eine Schwachstelle, das Bundesamt für Verfassungsschutz, noch weiter zu stärken, obwohl es bereits jetzt, keine besser aufgestellte Behörde gibt, als dieses BfV.

In allen Bereichen, hier sei der Bereich der RAF, des NSU, ja selbst nun der salafistische Bereich genannt, ist dieses Bundesamt sehr gut im Bilde. Dies belegen alle aktiven und inaktiven V-Leute des Amtes. Aber was nutzt all dieses Wissen, wenn dieses Bundesamt für Verfassungsschutz, selbstherrlich entscheidet, was, wann, wie sie anderen Sicherheitseinrichtungen zur Verfügung stellt – oder nicht. Solange dieses Amt keinerlei effektiver Kontrolle unterliegt, wird es auch weiterhin so rechtsstaatsfern arbeiten.

Berlin, den 14. Januar 2017

vsbuchcover

1

Vergleiche schon unsere Fragen kurz nach dem Attentat, hier auf der Website am 24. Dezember 2016.

2

Stefan Aust schrieb kurz nach dem Attentat zusammen mit anderen unter der anspruchsvollen Überschrift die absehbare Tat, dass das Attentat absehbar war und nicht hätte verhindert werden können. Wusste er schon damals von der dominanten Rolle des Bundesamts für Verfassungsschutz? Meinte er, dass diese Tat deswegen nicht verhinderbar gewesen ist? Wollte dies aber partout nicht sagen … . Dies wäre eine außerordentlich merkwürdige Haltung, die es aufzuklären gilt.

3

Vgl. etwa eine entsprechende Zusammenarbeitsrichtlinie aus dem Jahr 1973, nach deren Logik die Zusammenarbeit de facto läuft. Halten nämlich nach Paragraf elf Abs. 2 dieser Richtlinie Verfassungsschutzbehörden, Bundesnachrichtendienst oder Militärischer Abschirmdienst aus operativen oder sonst gewichtigen Gründen einen Aufschub der polizeilichen Ermittlungstätigkeit für geboten, so setzen sie sich unmittelbar mit der zuständigen Staatsanwaltschaft in Verbindung und verständigen hiervon unverzüglich die Polizei. Diese hält auf Weisung der Staatsanwaltschaft mit den weiteren Ermittlungen inne. Diese Richtlinie ist – unkontrolliert – ein Freibrief. Wenn der Verfassungsschutz die Staatsanwalt anweist und diese die Polizei, ist die letzte machtlos und wird ihrer Ermittlungskompetenz beraubt. Damit ist das Bundeskriminalamt ohnmächtig, wenn sich die übergeordneten Institutionen dazu entscheiden. Damit wird an einem neuralgischen Punkt Rechtsstaat und Gewaltenteilung zugunsten einer Exekutive aufgegeben, die zudem selbst seit Beginn an keiner vernünftigen Kontrolle unterzogen ist. Die Geheimdienste haben aus den rechtsstaatlich wilden Kampfzeiten des Kalten Kriegs, seit den Unkeler Richtlinien vom 8. Oktober 1954 eine solche Entscheidungswillkür gewährt bekommen, die in den Richtlinien für die Zusammenarbeit vom Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, Militärischen Abschiedsdienst und Polizei mehrfach verändert worden ist und Eingang in weitere Vorschriften und Gesetze fand.

4

Vgl. hierzu: H Funke: Staatsaffäre NSU. Münster 2015: 241-307

 

Empfehlung aktuell:

Hajo Funke

Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz

Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss

240 Seiten | Dezember 2017 | im Warenkorb vorbestellen | EUR 16.80
ISBN 978-3-89965-774-6

Kurztext: Der Mord an Generalbundesanwalt Siegfried ­Buback im April 1977, das Oktoberfestattentat 1980, die Mordserie des NSU, das Attentat von Anis Amri am 19. Dezember 2016. What’s next? Eine Zwischenbilanz.

Inhalt & Leseprobe:

 

www.vsa-verlag.de-Funke-Sicherheitsrisiko-Verfassungschutz.pdf635 K

Die Kette an Vertuschungen, Blockaden, Schwärzungen und bewussten Vernichtungsaktionen von zentralem Archivmaterial macht den NSU-Fall zu einem politischen Skandal des Verfassungsschutzsystems in der Bundesrepublik. »Je mehr V-Leute in einen Mord oder Anschlag verstrickt waren, desto unwahrscheinlicher wird dessen vollständige Aufklärung und die Verurteilung aller Täter und ihrer Hintermänner.« (Christiane Mudra) Klar ist: Der NSU konnte auf ein Netzwerk an Unterstützern zurückgreifen; der Verfassungsschutz war den rechten Mördern durch V-Männer zum Greifen nah, ohne das Nötige getan zu haben.

An der Aufklärung hapert es seit langem, denn der NSU-Skandal ist kein Einzelfall: Verstrickungen samt beteiligten Verfassungsschützern gibt es seit über 50 Jahren, ohne dass es bis heute zu einer Reform an Haupt und Gliedern gekommen wäre. Weder ist der Mord an Siegfried Buback 1977, das Oktoberfestattentat 1980 noch das Totalversagen der Sicherheitsbehörden im Fall Anis Amri 2016 aufgeklärt.

Eine Fortführung der Aufklärung des NSU-Komplexes in der kommenden Legislaturperiode ist unverzichtbar. Der Auftrag eines weiteren Untersuchungsausschusses müsste lauten: »(Rechts-)Terrorismus und Geheimdienste«. Denn Ausmaß und Form der Infiltration sind trotz der immer länger werdenden Liste enttarnter V-Leute/Gewährsleute/verdeckter Ermittler und Agents provocateurs eines der Geheimnisse der Dienste, an der sich auch der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestags die Zähne ausgebissen hat.

Ohne die Einstellung dieser unkontrollierten Praxis und des Schutzes von neonazistischen Gewaltverbrechern bleibt der Verfassungsschutz ein unkalkulierbares und unkontrollierbares Sicherheitsrisiko in Zeiten des Terrors. Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit müssen auf 100%ige Aufklärung und entsprechende Konsequenzen dringen.


Der Autor:

Hajo Funke, bis 2010 Professor an der FU Berlin, ist ausgewiesener Experte für Rechtsextremismus, er war u.a. auf Einladung der Oppositionsfraktionen Sachverständiger im NSU-Untersuchungsausschuss im ­Bayerischen Landtag.