Re­de an­läss­lich des 3. Jah­res­ta­ges der Auf­de­ckung der NSU-Ver­bre­chen/ Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern


Redner
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Gut zwei Jahren ist es her, da hielt Semiya Simsek, die Tochter eines der ersten Mordopfer des NSU, bei der zentralen Gedenkveranstaltung im Konzerthaus eine sehr bewegende Rede. Viele von uns waren dabei, und viele werden sich ihr Leben lang daran erinnern. Ein Satz von ihr ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Sie sagte: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“

Dieser Satz fasst wie unter einem Brennglas das Versagen des deutschen Staates, vielleicht aber auch unserer Gesellschaft insgesamt, im Umgang mit dem NSU zusammen. Lange, viel zu lange hatten die Sicherheitsbehörden in die falsche Richtung ermittelt, die Lage falsch eingeschätzt. Sie haben damit den Opfern und ihren Familien – sicher unbeabsichtigt – im Ergebnis zusätzliches Leid zugefügt. Es waren aber nicht lediglich einzelne Fehler, Ermittlungspannen, die dafür gesorgt haben, dass der NSU so lange unentdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch die Strukturen und die Haltungen von Sicherheitsbehörden, von Verantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlungen so lange auf das Umfeld der Opfer begrenzt blieben.

Unser Staat – das ist mehrfach gesagt worden, auch bei dieser Veranstaltung, auch durch die Verantwortlichen der Sicherheitsbehörden selbst – hat mit diesem Versagen Schuld auf sich geladen. Diese Schuld und das, was wir den Opfern und ihren Familien damit angetan haben, können wir nicht ungeschehen machen. Es war, es ist, und es bleibt deshalb unsere erste Pflicht, weiter aufzuklären, wie es zu diesem fürchterlichen Versagen kommen konnte, aufzuklären, welche Strukturen und Haltungen dieses Versagen begünstigt haben. Zugleich kommt es darauf an, das für die Zukunft abzustellen.

Vieles ist getan worden, um Licht in das Dunkel zu bringen, um besser zu werden, vor allem auch durch die Parlamente. Seit drei Jahren wurden und werden die Versäumnisse von insgesamt sechs parlamentarischen Untersuchungsausschüssen aufgearbeitet. Über die Arbeit des Untersuchungsausschusses dieses Parlaments haben wir viel geredet: 47 kluge, weitreichende und einstimmige Empfehlungen, die die Koalition komplett umsetzen möchte. Auf Länderseite haben die Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Sachsen ihre Arbeit beendet. Die Untersuchungsausschüsse in Hessen und Nordrhein-Westfalen nehmen ihre Arbeit auf. Heute hat Baden-Württemberg beschlossen, auch einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

Das Verfahren vor dem OLG München – am Anfang auch kritisch begleitet; es hieß: zu lange, zu aufwendig; gefragt wurde: wie ist es mit der Presseberichterstattung? Wir erinnern uns daran – mit fünf Angeklagten, 90 Nebenklägern und 600 Zeugen zeigt in seinem bisherigen Verlauf eindrucksvoll, mit welcher großen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt Gericht und Bundesanwaltschaft an der Aufklärung dieser konkreten Taten arbeiten. Das ist langsam, aber, glaube ich, gerade wegen der Gründlichkeit auch im Interesse der Opfer.

Im Hintergrund ermitteln Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt unermüdlich und akribisch weiter gegen potenzielle weitere Täter. Sie gehen zahllosen Spuren nach, sehen sich Asservate immer und immer wieder im Lichte aktueller Erkenntnisse an. Bund und Länder arbeiten gemeinsam unaufgeklärte Mordfälle auf, die lange zurückliegen, in der Hoffnung, sie doch noch aufzuklären, indem man jetzt einen anderen Blick auf denkbare Ursachen, auch auf rechtsextremistische Tathintergründe richtet.

Unmittelbar nach der Entdeckung der NSU-Terrorzelle sind die Behörden des Bundes im Verbund mit den Ländern aktiv geworden. Die Umsetzung der Empfehlungen des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages läuft auf Hochtouren. Das gilt für die Justiz- und Polizeibehörden, aber auch für die Nachrichtendienste. Bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus und des Rechtsterrorismus hat sich in den vergangenen drei Jahren im Bund und in den Ländern sehr viel verändert: angefangen von der innerbehördlichen Organisation über die Zusammenarbeit der Behörden bis zur Aus- und Fortbildung in vielen Bereichen. Stellvertretend für viele Einzelmaßnahmen steht das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus in Köln. Nach rund zwei Jahren hat es sich zu einer unverzichtbaren Kommunikations- und Kooperationsplattform für die Länder und den Bund entwickelt. Das bedeutet: Heute wissen wir besser, wer die sogenannten gefährdungsrelevanten Personen im Bereich rechts sind, auf wen wir also besonders achten müssen.

Auch bei Empfehlungen, die nur von Bund und Ländern gemeinsam umgesetzt werden können, sind wir auf einem guten Weg. Viele Änderungen bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund sind durch die Innenministerkonferenz bereits beschlossen worden. Auch das Definitionssystem „Politisch motivierte Kriminalität“ – das war ja, Herr Präsident, eben noch Gegenstand der Fragestunde – wird zurzeit zusammen mit den Ländern grundlegend auf Verbesserungsbedarf geprüft.

Das Gesetz über die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist mit den Ländern weitgehend erörtert, und wir legen es in Kürze, das heißt in wenigen Wochen, vor, sodass es dann im Deutschen Bundestag beraten werden kann. Da geht es insbesondere um die Beschreibung und Führung von V Leuten und die Informationsweitergabe – all das Dinge, die wir zu kritisieren hatten.
Auch bei der Aus- und Fortbildung unserer Mitarbeiter besteht ein großer Handlungsbedarf. Darauf weisen auch die Mitglieder des Untersuchungsausschusses immer wieder hin. Wir müssen kontinuierlich um Mitarbeiter werben, die eigene Migrationserfahrungen haben. Wir müssen das Versagen bei den Ermittlungen gegen den NSU auch im Hinblick auf unsere Schulungsmaßnahmen aufarbeiten, gerade mit Blick auf junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie müssen sich mit der Frage beschäftigen: Wie konnte das geschehen?

Wir brauchen einen anderen Umgang mit Fehlern. Auch das ist ein Prozess, bei dem wir sicher noch nicht da angekommen sind, wo wir hinwollen. Aber wir haben im Bund und in den Ländern begonnen, Fehler aufzuarbeiten. Wir müssen unsere eigenen Mitarbeiter nachhaltig dazu ertüchtigen und ermutigen, Fehler und Zweifel an der Richtigkeit des bisher eingeschlagenen Weges auch anzusprechen. Nur so können wir aus den Fehlern und dem Versagen im Umgang mit dem NSU lernen.

Semiya Simsek sprach vor zwei Jahren von ihrer Trauer um den ermordeten Vater und davon – das hat mich genauso bewegt –, dass Deutschland immer noch ihre Heimat sei und bleiben werde, auch wenn sie, die sie sich noch nie in ihrem Leben Gedanken über Integration gemacht habe, erkennen musste, dass es hier in unserem Land Menschen gibt, die zu Mördern werden, nur weil jemand aus einem anderen Land stamme.

Gerade vor diesem Hintergrund – damit will ich schließen – ist es für mich unerträglich, dass vor gerade einmal zwei Wochen randalierende Rechtsextremisten gemeinsam mit anderen gewaltbereiten Chaoten in Köln rechtsradikale Parolen gebrüllt haben und die Menschen in der Kölner Innenstadt in Angst und Schrecken versetzt haben, Polizisten verletzt haben, und all das mit Alkohol und mit Ansage. Das können und werden wir nicht dulden.

Wir können es erst recht nicht dulden, dass sich diese Rechtsextremisten unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Islamisten in unseren Städten zusammenrotten. Hier muss unser Staat hart reagieren, um Grenzen aufzuzeigen. Wir sind und bleiben eine wehrhafte Demokratie, und wenn unsere Polizei, wenn unser Staat und wenn unser Zusammenleben derart angegriffen werden, so müssen wir alle Kräfte bündeln, um gemeinsam unser friedliches Zusammenleben zu verteidigen. Das kann auch mal ein Verbot einer Demonstration sein, vor allen Dingen, wenn sich absehen lässt, dass sie wahrscheinlich nicht friedlich verläuft. Ich möchte die Behörden in Hannover ausdrücklich ermuntern, diesen Weg so zu prüfen, dass ein solches Verbot möglichst auch vor Gericht Bestand hat.

Aber ein Verbot einer Demonstration allein löst das Problem natürlich auch nicht. Wir brauchen eine gesellschaftliche Isolierung von Gewalt als Mittel innenpolitischer Meinungsbildung. Toleranz und Vielfalt, Freiheit und Menschenwürde bleiben prägend für unser Land. Toleranz endet dort, wo Vielfalt, Freiheit und Menschenwürde gewaltsam angegriffen werden. Dies gemeinsam anzugehen, auch das sind wir den Opfern des NSU schuldig.

Quelle: BMI

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