tagesschau| NSU-Komplex und Verfassungsschutz: Das Rätsel um den V-Mann „Tarif“


Ex-V-Mann „Tarif“ sagt, der Verfassungsschutz hätte nach seinem Hinweis 1998 den NSU stoppen können. Überprüfen lässt sich das nicht: Die Akten zu „Tarif“ wurden vernichtet. Später wurden Teile davon rekonstruiert, doch wurden sie dem NSU-Ausschuss auch vorgelegt?

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Hätten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bereits vor ihrem ersten Mord gestoppt werden können? Im Jahr 1998 tauchten die drei ab; Neonazis aus Jena wollten den drei Kameraden helfen, einen Unterschlupf zu finden. Ein Rechtsextremist aus dem Umfeld der Flüchtigen rief angeblich bei einem Weggefährten an, um sich zu erkunden, ob dieser ein Versteck für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wüsste.

Dieser Weggefährte soll Michael von Dolsperg gewesen sein. Er war damals aber nicht nur ein bekannter Neonazi, er kooperierte auch mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Sein Deckname: „Tarif“. Er habe seinen Kontaktmann beim Geheimdienst umgehend über den Anruf informiert, sagte von Dolsperg bei einer Vernehmung der Bundesanwaltschaft. Gegenüber tagesschau.de bestätigt er diese Darstellung.

Quellenschutz über alles?

Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage: Warum ließ der Geheimdienst die Chance verstreichen, die drei gesuchten Neonazis aufzuspüren? Es wäre wohl möglich gewesen, sie in ein Versteck zu locken und die Polizei darüber zu informieren. Allerdings wäre die Quelle „Tarif“ damit aufgeflogen. Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele sagt gegenüber tagesschau.de, er halte die Darstellung von „Tarif“ vor diesem Hintergrund für glaubwürdig. Es passe ins Gesamtbild, dass der Verfassungsschutz wohl lieber seine Quelle schützen wollte und dafür auf eine Ergreifung von gesuchten Neonazis verzichtete.

NPD-Propaganda

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Michael von Dolsperg kandidierte für die NPD. (Quelle: Kai Budler)

Doch ein Beleg dafür, dass von Dolsperg tatsächlich den Hinweis auf die gesuchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gab, liegt nicht vor. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte sich eingehend mit dem Fall beschäftigt – ohne konkrete Ergebnisse. Die Akten des Verfassungsschutzes halfen den Abgeordneten kaum weiter. Denn unmittelbar, nachdem der NSU sich im November 2011 selbst enttarnt hatte, gab ein Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz den Auftrag, die Akten von mehreren V-Leuten aus Thüringen zu vernichten. Für die Akte von „Tarif“ gab es sogar einen gesonderten Auftrag. Ein Vorgang, der einen Skandal auslöste.

Von Dolsperg meint gegenüber tagesschau.de, er könne sich die Vernichtung seiner Akte nur damit erklären, dass er den erwähnten Hinweis an den Verfassungsschutz gegeben habe. „Das ist in meinen Augen die einzige Brisanz meiner Tätigkeit für das BfV.“

Blaupause für den NSU?

Viele halten allerdings die Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und von Dolsperg schon an sich für einen Skandal. Der Neonazi war mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, saß sogar im Gefängnis – wegen versuchten Totschlags. Von Dolsperg kandidierte für die NPD und galt als wichtiger Kader in der braunen Szene von Niedersachsen und Thüringen. Angeblich habe er aussteigen wollen aus der Szene, betont von Dolsperg, auf Drängen des Geheimdienstes habe er dies nicht getan. „Somit war der Ausstieg erst mal auf Eis gelegt“, sagt er heute.

Nachdem die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz begonnen hatte, organisierte von Dolsperg nach eigenen Angaben Kameradschaftsabende, Rudolf-Hess-Aufmärsche, trat als Redner bei Veranstaltungen auf und veranstaltete Liederabende und Konzerte für die Szene. „Tarif“ gab ein Szeneheft heraus, in dem konkrete Anweisungen für einen illegalen Kampf gegeben wurde. Empfohlen wurde eine Organisation in kleinen, autonomen Zellen. Das Prinzip des NSU. Ein Exemplar des Hefts wurde denn auch in einer Garage in Jena gefunden, die von den späteren Terroristen genutzt wurde. Ermittler sprachen von einer Art Blaupause für den NSU.

Sachakten der Generalbundesanwaltschaft zum Fall Zschäpe | Bildquelle: dpa

Gleichzeitig berichtete „Tarif“ über Jahre für Zehntausende D-Mark dem Geheimdienst über militante und gewaltbereite Neonazis – obwohl er, so von Dolsperg, innerhalb der Szene selbst als militant galt. Kenner der Neonazi-Strukturen meinen: Auch außerhalb der Szene sei er als gewaltbereiter, einflussreicher Kader berüchtigt gewesen.

Rätselraten um Akten

Der Untersuchungsausschuss im Bundestag konnte sich zwar durch Einsicht in einige rekonstruierte Akten über den Fall „Tarif“ informieren, doch die Aussagekraft sei „mager“ gewesen, ist zu vernehmen. Zudem wurde der Hintergrund der Aktenvernichtung nie ganz aufgeklärt. „Die bisher gegebenen Erklärungen für das Schreddern der Akte ‚Tarif‘ am 11. November 2011 hat den NSU-Untersuchungsausschuss nie wirklich überzeugt“, betont Eva Högl, SPD-Obfrau in dem Ausschuss, gegenüber tagesschau.de.

Zudem hat die Geschichte nun noch eine weitere Wendung genommen. Kurz vor Weihnachten wollte die Linken-Abgeordnete Martina Renner in einer Fragestunde des Bundestags wissen, wie viele Quellenberichte des V-Mannes „Tarif“ sich derzeit im Besitz des Bundesamtes für Verfassungsschutz befänden. Die Antwort des Innenministeriums: exakt 157.

Das sorgt wiederum bei den Abgeordneten für Aufsehen, die diese Berichte offenbar nicht kennen. SPD-Obfrau Högl meint, wenn der Verfassungsschutz dem NSU-Ausschuss wichtige Unterlagen zu „Tarif“ vorenthalten habe, sei das ein „unerhörter Vorgang“. Sie verlange „eine vollständige Antwort darauf, ob die Unterlagen dem Untersuchungsausschuss absichtlich nicht vorgelegt wurden, warum dies geschah, wer das entschieden hat und wer davon wusste“. Darüber hinaus fordert sie die Einsicht in die Unterlagen.

Das Innenministerium erklärte auf Anfrage von tagesschau.de hingegen, dem Ausschuss seien sämtliche „zum damaligen Zeitpunkt“ rekonstruierten Akten vorgelegt worden. Das waren offenbar aber nicht allzu viele, folgt man der Linken-Abgeordneten Renner. Keine einzige der mehr als 150 Quellenmeldungen zu „Tarif“ sei dem NSU-Untersuchungsausschuss vorgelegt worden.

Dabei hätten die Akten schon vorliegen müssen, als der NSU-Ausschuss noch im Amt war, denn die Regierung selbst antwortete erst im Oktober 2014 auf die Frage, ob seit der Abgabe des Abschlussberichts des U-Ausschusses weitere Teile der Akte „Tarif“ beim BfV rekonstruiert werden konnten, mit „Nein“. Das heißt im Umkehrschluss: Die 157 Quellenberichte zu „Tarif“ lagen bereits vor, als die Abgeordneten im Ausschuss noch versuchten, den NSU-Komplex aufzuklären.

„Systematische Täuschungsmanöver“

Renner spricht angesichts dieser Umstände gegenüber tagesschau.de von „systematischen Täuschungsmanövern“. Betroffen sei nicht nur das Parlament, sondern auch der NSU-Prozess in München, so Renner. Denn „die Verfahrensbeteiligten im Prozess gegen Beate Zschäpe haben ja auch ein Recht auf alle relevanten Akten“. Solange diese Akten nicht vorliegen gibt es keine Klarheit im Fall „Tarif“.

Quelle: TAGESSCHAU -DAS ERSTE

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